326WerkanalysenDie Fantaisie pour piano solo liegt in zweifacher Manuskriptversion vor, viersätzig unter der Bezeichnung Trio pentru vioară, violoncel și pian als Nr. 3383 des Archivs der »Uniunea Compozitorilor și Muzicologilor din România«, und fünfsätzig als Fantaisie unter der Signatur (Rmg 618) in der Bibliothek des Genfer Konservatori-ums. Das verwendete rumänische bzw. französische Notenpapier dieser jeweils ru-mänisch bzw. französisch übertitelten Versionen lässt die Entstehung der Fassun-gen in Rumänien bzw. in Paris vermuten, zumal in der französischen Fassung Li-pattis Pariser Adresse215 sowie die Widmung »à mon Maître Alfred Cortot« ver-merkt ist. Die Unterschiede beider Varianten sind auffällig: Der Einleitungssatz »Grave« der in Bukarest archivierten Fassung bildet in der Pariser Variante den Schluss der Komposition, während dort ein neuer Anfangssatz, »Allegro energico«, hinzugefügt wird. Aus der folgenden Darstellung wird hervorgehen, dass sich dadurch der Aus-druck des gesamten Werkes nachhaltig verändert. Lipattis Bukarester Studienkolle-ge Miron Șoarec berichtet, Lipatti habe das Werk noch in Bukarest begonnen, doch im ersten Jahr in Paris fertiggestellt.216 Diese Aussage bestätigt sich bei Durchsicht der bis auf seltene und geringfügige Unterschiede in Vortragsbezeichnungen im Haupttext identischen Partituren, da die Bukarester Version einzelne Korrekturen und Schriftproben am Papierrand aufweist, während die fünfsätzige Genfer Fas-sung auch äußerlich die Züge einer Reinschrift trägt. Zudem kann die Tatsache, dass in der Bukarester Fassung die ersten drei Sätze jeweils mit neuer Seitenzählung beginnen, ein Hinweis darauf sein, dass sie noch einzeln gedacht, im Ablauf noch nicht festgelegt sind. Daher lege ich meiner Analyse die in Genf archivierte Manu-skriptversion zu Grunde mit der endgültigen Satzfolge »Allegro energico« – »An-dante« – »Presto« – »Allegretto« – »Grave« – »Allegro energico«. Die offenbar noch unter Joras Einfluss217 konzipierte Fantaisie pour violon, violon-celle et piano erweist sich kompositionstechnisch als wichtiger Schlüssel zu einer Rei-he von späteren Werken. Es finden sich in ihr divergierende, teilweise auf konträren Kompositionsrichtungen fußende musikalische Ideen und Verarbeitungsweisen, die bereits auf größere Werke der Zukunft verweisen. Diese für Lipattis späteres Hauptwerk richtungsweisenden Elemente sollen im Folgenden dargestellt werden. Allegro energico Dem in der fünfsätzigen Fassung hinzugefügten Anfangssatz kommt besonderes Gewicht zu, da er als »da capo« im Anschluss an den fünften Satz auch das Ende der Fantaisie darstellt. Die in Lipattis Werk einmalige Bezeich-nung »Allegro energico« findet sich der Charaktervorgabe entsprechend bereits in der zwölftaktigen Introduktionsphase auskomponiert: Kraftvolle Bewegungen ak-zentuierter Achtelrepetitionen in rasend schnellem Zeitmaß ( = 112) erzeugen eine motorische Grundierung in den Stimmen von Violine und Violoncello. Der disso-nante Aufbau schneller tonaler Wechsel, im Bass vorangetrieben durch parallelge-215»9 rue Saint-Romain Paris VI«.216Vgl. Șoarec, 1981, S. 86.217Vgl. Bărgăuanu / Tănăsescu, 1991, S. 189.