330WerkanalysenNotenbeispiel 100: D. Lipatti: Fantaisie pour violon, violoncelle et piano, Conservatoire de Musique Genève, Bibliothèque (Rmg 618), 1. Satz, Takte 17–20. Zielpunkt der sich dissonant zuspitzenden Fortspinnung ist ein D9-Akkord in Takt 27, der durch erstmalige tonale Eindeutigkeit überrascht. In der sich anschlie-ßenden Fortspinnung geschieht die Überleitung zu einem lyrischen Seitenthema wiederum mittels der Elemente Rückung, »Formule renversée« und Bitonalität und nutzt damit Verfahrensweisen, die sich in der Gesamtbetrachtung von Lipattis Werk als kennzeichnend für seine Kompositionen erweisen werden – die Rückung in ihrer markantesten Form sicherlich in der Themenexposition des Concerto pour orgue et piano.221 Kontraste zum Hauptthema bestehen in der zarten p-espressivo-Ausdrucksweise der Violine, der wiederum fluktuierenden H-Dur- und h-Moll-To-nalität, aber auch in der geringeren Durchsetzungsfähigkeit, da das starre Motiv der Takte 17 bis 21 in fortentwickelter, verselbstständigter Form und stereotyper Bewe-gung stets im Klavier überlagernd präsent bleibt. Dem ersten Thema verwandt ist hingegen die intervallisch in erster Linie kleinschrittige Bauweise, deren Höhepunk-te mittels Quartschritten gestaltet werden, sowie das Changieren von Skalentönen, etwa d-dis in Takt 52 oder c-cis in Takt 56, und die damit entstehende tonale Offen-heit.221Vgl. ebd.