334WerkanalysenDas Erklingen der Töne im Melodieverlauf der Violine erinnert an den Aufbau einer Zwölftonreihe, da auf Tonwiederholungen auf markanten Positionen der melodi-schen Aufwärtsentwicklung verzichtet wird, sondern vielmehr allen zwölf Tönen strukturelle thematische Bedeutung beigemessen wird. Mit dem Wiedereinsetzen der Violine ab Takt 15 erklingt der Themenbeginn in Parallelverwandtschaft mit Be-ginn auf dem e’’. In der Folge bleibt bis zum Ende des Stückes konsequent jeder the-matische Einschnitt an die vorherige Durchschreitung des chromatischen Totals ge-mäß der im Melodieverlauf festgelegten Tonreihenfolge gebunden: Die Durch-schreitung erfolgt jeweils in den Takten 15–20, 21–23, 24–27 unter Berücksichtigung des nur kurz an dieser Stelle aus den starren Patterns ausbrechenden Klavierparts, dann in den Takten 28–33 und 34–39, bevor sich das Stück in den letzten elf Takten abrupt auf die Vorbereitung der Töne des Schlussakkordes G zurückzieht. Es kann also durchaus von einem gesetzmäßigen Prinzip der Zwölftonorientierung gespro-chen werden – der einzige zwölftönige Ansatz in Lipattis Werk. Thematisch wird diese zwölftonorientierte Grundlage konsequent mit für den Neoklassizismus typischen Strukturen auskomponiert: Strenge Polyphonie in der Themenbeantwortung und der durchgängige Puls der Basslinie tragen neobarocke Züge und neoklassizistische Verspieltheit, rhythmische Finessen und melodischer Verlauf setzen eigenwillige Akzente im dennoch griffigen Thema, und auf der Ebe-ne der Harmonik werden zwischen atonaler Offenheit immer wieder tonale, bi- oder polytonale Deutungsmöglichkeiten angeboten. So kann dieser Satz thematisch durchaus als direkte Vorbereitung des neobarocken Einleitungssatzes der Sympho-nie Concertante gesehen werden. Die mit der Vortragsbezeichnung »sons harmoni-ques« verlangten Flageoletts in Takt 42 zeigen hingegen eine Nähe zum impressio-nistisch entwickelten Mittelsatz derselben Symphonie Concertante, der ebenfalls die Spielweise »harmoniques« vorsieht.222 Der mit dieser Vorgabe im »Andante« des Trios eingeleitete Schlussaufbau des pausendurchsetzten Ausklingens bis zum Still-stand zeigt wiederum Parallelen zum Nocturne (Thème moldave).Presto Ein zwölftöniges Spektrum im Themenaufbau kennzeichnet ebenfalls den nachfolgenden Satz »Presto«, auch wenn dies nicht zu seinen prägendsten Kennzei-chen gehört. Der fünftaktige Themenkopf durchschreitet alle zwölf Töne des chro-matischen Totals. Auffallende tonale Besonderheit ist jedoch eine unvermittelte Rückung innerhalb der am Beginn stehenden Achtelkette, eine Versetzung tragen-der Skalentöne um einen Halbtonschritt abwärts, wodurch eine Skala im natürli-chen a-Moll gleichsam in eine Ges-Dur-Leiter umgewandelt wird, in ihrer Unvoll-ständigkeit allerdings offen deutbar, etwa auch als phrygischer Antwortpart der be-gonnenen Skala. Eine ähnlich markante Rückung innerhalb der ersten Themenexpo-sition wird auch das drei Jahre später komponierte Concerto pour orgue et piano kenn-222Vgl. IV.2.4.2 »Symphonie Concertante«.