342Werkanalysenlig eindeutig identifizierbar im Sinne einer nationalen Herkunft. Vielmehr ist die Fantaisie pour violon, violoncelle et piano Lipattis erste Komposition, in der eine beein-druckende, verschieden interpretierbare Synthese spezifischer Materialien und Stil-mittel vorliegt, deren Herkunft durchaus national zuschreibbar wäre, die sich je-doch auch auf dem für den Neoklassizismus typischen »objektiven« Boden bewe-gen und die dadurch verschiedene musikalische Identitäten organisch miteinander vereinbaren. Mit der späteren Hinzufügung des »Allegro energico« nimmt Lipatti jedoch eine eindeutig neoklassizistische Schwerpunktsetzung vor. Das stärker in Elementen rumänischer Volksmusik verankerte »Grave« verliert durch seine verän-derte Position deutlich an Gewicht. Andererseits lässt der so exponierte Neoklassi-zismus einen eindeutigen rumänischen Hintergrund erkennen, der außer in diesem Werk erst in deutlich späteren Kompositionen wieder zu hören sein wird. Allein die Fantaisie pour violon, violoncelle et piano ist ein Beleg dafür, dass diese rumänisch-neo-klassizistische Ausprägung und damit auch eine kompositorische Synthese rumäni-scher und französischer Einflüsse bei Lipatti von Beginn an angelegt ist und nicht etwa erst das Endprodukt eines langen kompositorischen Prozesses, wie es das sonstige Frühwerk vermuten ließe, vor allem die zeitgleich komponierten, histori-sierend-neoklassizistischen Werke Concertino en style classique, Toccata pour orchestre de chambre und auch noch die Symphonie Concertante und das Concerto pour orgue et piano. In der Fantaisie pour violon, violoncelle et piano werden Elemente von Lipattis späterem Personalstil bereits vorweggenommen. Überraschend ist in dieser Hin-sicht außerdem die progressive Tonsprache, deren zwölftonorientierte Ansätze in keinem späteren Werk mehr weiterverfolgt werden und die sich ebenfalls in keiner Weise in den gleichzeitig komponierten Werken Concertino en style classique und Toccata pour orchestre de chambre, in Ansätzen höchstens im Allegro für Klarinette und Fagott finden. Nicht weniger verblüffend erscheint die Tatsache, dass Lipatti selbst den auffälligen Bruch zwischen diesen Werken nicht zu empfinden scheint, wenn er etwa seinem Freund Miron Șoarec lapidar mitteilt: »Heute schreibe ich die letzten Takte der Fantaisie auf und morgen beginne ich, an der Fuge der Toccata zu arbei-ten.«227 Die für den Neoklassizismus bezeichnenden abrupten Stilbrüche erreichen hier eine eigene Qualität dadurch, dass sie nicht nur alt und neu, sondern auch verschie-dene Stränge der Moderne kombinieren.2.4.2 Symphonie Concertante op. 5Die Symphonie Concertante (1938) für zwei Klaviere und Streichorchester entsteht ge-gen Ende der Studienzeit in Paris. Gewidmet ist sie Charles Münch, bei dem Lipatti studiert und unter dessen Leitung das Werk Anfang Juli 1939 aufgeführt wird.228 227Brief vom 25.09.1936 an Miron Șoarec, Șoarec, 1981, S. 47; »Azi aștern pe hîrtie ultimele măsuri din Fantezie, iar de mîine încep a lucra fuga Toccatei«. Der Brief stammt aus Fundățeanca, weshalb es sich um die Reinschrift des vermutlich zuvor bereits fertiggestellten Werkes handelt. Erhellend ist außerdem, dass Lipatti in diesem Brief selbst den Titel »Fantaisie« verwendet. 228Vgl. Bărgăuanu / Tănăsescu, 1991, S. 62.