350Werkanalysentikulierten Geigenklangfarben verankern die impressionistischen Kennzeichen in der rumänischen Volksmusik. Nicht die französische, sondern eine rumänische Prä-gung des Impressionismus238 findet sich hier auskomponiert. Erkennbar ist eine Nähe zum Mittelsatz der 3. Violinsonate (1926) von Enescu, aber auch zum dritten Satz von Bartóks Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta (1936), beson-ders in der sphärischen Extremlage der Violinen und der Terzmotivik. Eine derarti-ge impressionistische Klangflächenstruktur hat bei Lipatti ihren Vorläufer in der zehnseitigen Skizze eines Motettensatzes, den Bărgăuanu und Tănăsescu auf 1937 datieren.239 Dort finden sich ähnliche Bausteine als tragende Pfeiler der komposito-rischen Konstruktion, die erkennen lassen, dass Lipatti auf diesem Gebiet prozess-haft und zielgerichtet die Entwicklung eines impressionistischen Stils verfolgt, der vor allem aus der gegenseitigen Durchdringung der einzelnen Motivfasern resul-tiert. Tragende und charakterprägende Bausteine sind auch in der Chormotette teil-ostinate Liegeklänge, einzelne hoquetusartig von Pausen durchsetzte motivische Fä-den, die sich zu einem fluktuierenden Gewebe verbinden, weiterhin Stimmenge-flechte, die sich aus minimalistischen Patternstrukturen, in beiden Werken repetie-renden Sechzehntel-Quintolen und der Imitation einzelner Mikrobewegungen in unterschiedlichen Stimmen zusammenfügen, und eine nur zögerliche Melodieent-wicklung, eine langsam von einem Ton sich lösende Auffächerung in den Solostim-men.Der geschlossene formale Aufbau führt dazu, dass trotz thematischer Arbeit im Mittelteil in der Gesamtwirkung des Satzes nicht die lineare Entwicklung steht, son-dern vielmehr die Konstante einer fließenden Klangtextur. Das bestimmende Mo-ment der fluktuierenden Klangfarben und Intervalle erhält dabei auch eine räumli-che und damit ordnende Dimension. Dementsprechend ist auch der Klavierpart in den Gesamtklang integriert und erfüllt vor allem begleitende und die Klangfarben prägende Funktionen. So hebt sich der Mittelsatz in seiner statischen Klangorientie-rung von den Ecksätzen ab. Allegro con spirito Der Schlusssatz, »Allegro con spirito«, ist der materialreichste und ausdrucksstärkste. In ihm findet eine Synthese charakterprägender Elemente aus rumänischer Lăutari-Musik, Jazz, Ostinato-Konstruktion, Klangflächenarbeit, Polyrhythmik und Polyphonie statt. Bărgăuanu und Tănăsescu sehen zudem in ei-ner repetierenden Figur, deren Schwerpunkt taktweise verschoben wird, die Wir-kung eines aleatorischen Kompositionsverfahrens,240 so dass dieser Satz wichtige zeitgenössische Kompositionstechniken verwendet. Die zu Grunde liegende Sona-tensatzform gibt wichtige Anhaltspunkte zur Betrachtung, da sie den Hauptthemen tragende Funktionen zuweist. Sie ist jedoch als Bezugsrahmen nicht ausreichend, da 238Vgl. III.2.5.1.2.2.2 »Ambivalenz der impressionistischen Stilelemente – französischer Einfluss oder Herkunft aus der rumänischen Volksmusik?«.239Archiviert in der Bibliothek der Uniunea Compozitorilor și Muzicologilor din România unter der Nr. 3379.240Vgl. Bărgăuanu / Tănăsescu, 1991, S. 203.