2.4 Werke der rumänisch-französischen Stilsynthese 357Jenseits dieser musikhistorischen und nationalstilistischen Zuordnungen ist das Werk in erster Linie aufschlussreich in Bezug auf Lipattis persönlichen kompositori-schen Ausdruck, wie die folgende Darstellung zeigen soll: Die Première Improvisa-tion verdichtet eine Vielzahl kompositorischer Elemente, die sich als ebenso kenn-zeichnend für andere Werke Lipattis wie auch für seine Auffassung der Improvisa-tions-Gattung erweisen. So will die folgende Analyse aus der Beschreibung dieser charaktergebenden und für das improvisatorische Element bestimmenden komposi-torischen Mittel heraus Verbindungslinien aufzeigen, die zum Gesamtwerk Lipattis und seinem Personalstil führen.Der Verlauf der kurzen, 54taktigen Komposition zeigt eine deutliche Gliederung in sechs Formblöcke und ein sechstaktiges Zwischenspiel mit jeweils eigener klangli-cher Ausprägung. Angesichts einer extremen Beschränkung der Mittel vor allem im Bereich des Rhythmus geschieht die Formgebung über geringe und bewusst statisch angelegte Veränderungen: Im ersten, achttaktigen Formteil geschieht der Aufbau ei-ner rhythmischen und harmonischen Grundierung mit Verzicht auf thematisches Material. Das Klavier kreist während der ersten 23 Takte in Achtel- und vorwiegend Sekundschritten um den Ton fis, sich allmählich aufwärtswindend. In der klein-schrittigen und chromatisch unregelmäßig sich auffächernden Intervallstruktur zeigt sich eine Vorgehensweise, die zu Beginn der zwei Jahre später entstehenden Sonatine pour piano (main gauche seule) weiter entwickelt werden wird. Die Vortrags-angabe »misterieux et decoloré«, also nicht nur farblos, sondern, stärker noch, ent-färbt, unterstreicht die eigenwillig-unfassliche, da tonlos-schwebende und metrisch wenig greifbare Grundstimmung, die diese statisch-zurückhaltende Klangbewe-gung hervorruft.