362WerkanalysenNeben die weiterhin präsenten chromatischen Sekundlinien tritt in dem folgenden, fünften Block ab Takt 39 im Klavier ein neues Element: Ganztaktig gehaltene Ak-korde von mit über fünf Oktaven enorm weitem Ambitus, von pp bis mp crescendie-rend, vermitteln klangliche Stabilität und motorische Beruhigung bei gleichzeitiger motivisch-lyrischer Belebung in den Streichern. Die Chromatik erfährt hier eine neue Behandlung, da die rechte Hand einen mit Quarte und Quinte gefüllten Ok-tavklang in Halbtonschritten von h’’’ in Takt 39 bis zu fis’’’ in Takt 44 abwärts führt, während sich die linke Hand in komplementärer Richtung dazu mit Oktavverdop-pelungen aus großer Tiefe des 2H in weiten Intervallen über knapp vier Oktaven aufwärts bis zum a’ bewegt. Diese Passage mündet in ein eintaktig-kurzes motivi-sches Aufblühen in der Geige in Takt 46, in ihrer triolisch-arpeggierenden, verzier-ten Entfaltung erinnernd an den pianistischen Höhepunkt in Takt 25. Auch hier folgt die sofortige dynamische und motivische Zurücknahme. In Form einer zwei-taktigen Reprise der thematischen Linie aus Takt 17 beginnt ein achttaktiges, durch kanonische Imitation geprägtes Ausklingen, das in einem tonal nicht vorbereiteten Cis-Dur-Akkord endet, dessen klarer Dur-Aufbau daher überrascht. Dieser Schlussaufbau erinnert an den des Nocturne (Thème moldave), des Nocturne en fa# mi-neur und der Fantaisie pour piano solo, also an Werke, in denen an Stelle neoklassizis-tischer Arbeitsweisen Bezüge zu französisch-impressionistischen Verfahren und auch ein entweder von Lipatti selbst oder von anderer Seite sogenannter »nostalgi-scher«253 Gefühlsgehalt gesehen wird. Schematisch betrachtet zeigt sich also für je-den der Formblöcke eine konzentrierte exponierte Verfahrensweisen mit jeweils ab-gegrenzter Materialbehandlung:TakteFormteilFormgebende kompositorische Merkmale1–8Durchgang I Exposition einer reduzierten Klangfläche mit wenigen Tönen und Sekundschrittigkeit9–16Durchgang IITonreduzierte Wiederholung mit Veränderung der Klangfarbe und Weiterentwicklung der chromatischen Motivik17–26Durchgang III Thematisch-melodische Belebung mit Höhepunkt 27–32Durchgang IVOstinati und Bordun33–38ZwischenspielChromatische Quartenbewegung 39–46Durchgang VChromatische Abwärtsrückung eines Akkordes, darüber abgebrochene Melodiefäden47–54Durchgang VIImitatorischer, pausendurchsetzter Schlussaufbau Zusammenfassend lässt die Première Improvisation folgende Schlüsse auf das Ge-samtwerk zu:253Vgl. IV.2.4.4 »Fantaisie pour piano solo«.