2.4 Werke der rumänisch-französischen Stilsynthese 363Diese einzige mit dem Begriff »Improvisation« bezeichnete Komposition Lipattis – der entsprechend dem Zusatz »Première« offenbar weitere folgen sollten – zeigt einige besondere Facetten seiner Auffassung dieser Gattung. Der innere Wider-spruch einer zu Papier gebrachten »Improvisation« macht deutlich, dass es sich aus-schließlich um die des Komponisten handelt – für die Interpreten wird kein Spiel-raum gelassen, da eine verbindliche Verzahnung der Stimmen festgelegt ist. Während Lipattis eigene außerordentliche pianistische Fähigkeit im Bereich der Improvisation, die in der Biografie geschildert wurde,254 vor allem für den Bereich der spontanen Bearbeitung eines Themas »im Stile von« überliefert wird, geht es im Gegensatz dazu in der vorliegenden Komposition nicht um ein klar exponiertes Thema. Vielmehr entsteht die Première Improvisation thematisch aus dem Nichts her-aus und bleibt die ganze Zeit über thematisch uneindeutig. Es handelt sich eher um eine Improvisation von Klängen, um ein Spiel mit harmonischen Farbwerten, ver-mutlich der Grund dafür, dass Bărgăuanu und Tănăsescu die Komposition als dem Impressionismus nahestehend bezeichnen. In dieser Hinsicht bricht die Première Im-provisation die Hörerwartungen. Die Prinzipien von Wiederkehr und variierender Bearbeitung bleiben jedoch erhalten, als Novum von dem thematischen oder har-monischen Bereich übertragen auf die Prinzipien der Materialverarbeitung: Anstelle einer Veränderung der Motive bleiben diese nahezu unverändert, stärker variiert werden hingegen die Funktionen, die ihnen zugewiesen werden. Im Mittelpunkt des Höreindrucks steht die Intensität der klanglichen Entwicklung, vordergründig wahrnehmbar durch die Gestaltungsbreite von Dynamik, Artikulation und Ambi-tus, für die jedoch ein komplexes Fundament differenzierter Kompositionstechniken entscheidend ist: Grundlegende Prinzipien dieser Komposition sind Materialredu-zierung und, gleichzeitig, Ausschöpfung von dessen variativen Entfaltungsmöglich-keiten. Das Hauptmerkmal auf der melodischen und tonalen Ebene ist die chroma-tische Linienführung, aus der heraus sich die in den unterschiedlichen Abschnitten mit großer Konsequenz verfolgten Verarbeitungsweisen von Quartenharmonik, Os-tinati, Unisono-Phasen, imitativer Arbeit entwickeln. In den Prinzipien extremer Materialbeschränkung und beharrlicher Redundanz tragen die einzelnen Passagen annähernd minimalistische Züge: Aus einer Kernzelle, einem perpetuierenden chro-matischen Motiv entstehen um sich selbst kreisende Bewegungen und kurze expres-sive thematische Linien, die sich ebenso organisch wieder zurück in kleinschrittiges Kreisen auflösen. In diesem bewusst nicht zielgerichteten Fließen in ständiger Va-riation kann die in Kapitel III.1 beschriebene Nähe zu arabischen Verfahrensweisen, etwa dem Maqam, gesehen werden, von G. Firca als gleichförmiges und doch im-mer subtil verändertes Fließen und als Einheit in der Vielfalt der Varianten charak-terisiert.255 Das Spiel mit Klangfarben und die tonale Flüchtigkeit, die Harmonik als Chan-gieren mit Farbwerten zu verstehen scheint, lassen sich in diesem Sinne, aber eben auch impressionistisch deuten, zeigen darüber hinaus jedoch auch ohne eine solche 254Vgl. II.3.3 »Künstlerische Kontiniuitäten«.255Vgl. G. Firca, 1996, S. 36 und III.1.6.5 »Prinzip permanenter rhythmischer Variation«.