364Werkanalysenmusikhistorische oder stilistische Zuschreibung vor allem einen experimentellen, eben improvisatorischen Umgang mit Tonmaterial, der sich ebenso in den Kontex-ten anderer Traditionen finden lässt, etwa in denen meditativer, minimalistischer, experimenteller Musik, vermutlich bewusst nicht auf einen bestimmten Kontext hin zugeschnitten, sondern sich im improvisatorischen, fantasierenden Zugang bewusst offen haltend. Wie so oft in Lipattis Kompositionen ist eine Verbindung verschiede-ner Musikwelten als ein Verweben unterschiedlicher Stile interpretierbar, doch sub-til genug, um nicht endgültig festgelegt zu sein. Ein Beispiel dafür sind im tonalen Bereich Andeutungen von Modalität oder von Skalen mit charakteristischer über-mäßiger Sekunde, etwa in der Geigenstimme in Takt 46, wo, wie an anderer Stelle auch, diese Andeutungen stets flüchtig bleiben, da das entscheidende Merkmal die tonale Offenheit und Reduzierung, das für-sich-Stehen jedes Tones bleibt. Bemer-kenswerterweise schließt Lipatti in dieser zweiten Komposition für Klaviertrio an die in der Fantaisie pour violon, violoncelle et piano im Extrem exponierte tonale Öff-nung an. Züge von Chromatik, Modalharmonik, Dur-Moll-System, Quartharmonik und systemfreien Prinzipien der Gleichwertigkeit der zwölf Töne hinterlassen ihre Spuren als Material für die Improvisation. So wird der Charakter des Improvisie-rens in dieser Komposition auf unerwartete Weise umgesetzt: Im Gegensatz zur Hörerwartung nach Veränderung der Motive bleiben in der Première Improvisation die Motive unverändert, und erhalten stattdessen verschiedenartige Funktionen und tonale, melodische wie rhythmische Bezüge. Dieser Bruch mit der Form wurde zum Beispiel deutlich an der unterschiedlichen Verwendung von Liegetönen oder den Tonrepetitionen im Sekundabstand: Während ganztaktigen Liegetönen etwa ab Takt 9 in wortgetreuer Wiederholung der Violinstimme durch das Klavier ein Stel-lenwert in der Prägung einer Klangfarbenänderung zukam, fügen sich ab Takt 28 Liegetöne zu mehrstimmigen Bordunen als stabilisierende Grundierung und Hin-tergrund zu zwei miteinander korrespondierenden Oberstimmen zusammen, und im vorletzten Formblock ab Takt 39 werden Liegetöne, die sich als Klangbündelun-gen aus großer Tiefe und extremer Höhe aufeinander zu bewegen, zum Entwick-lungsmotor dieses Formteils. Während für die unterschiedliche Verwendung dieser Liegeklänge deren harmonische Anlage von maßgeblicher Bedeutung ist, werden die chromatischen Tonrepetitionen höchstens minimal variiert und erhalten doch zwischen ostinatem Fortspinnungsmotiv, Teil einer kanonischen Imitation mit Echowirkung, tragendem Steigerungselement und ausklingender Wirkung im Schlussaufbau verblüffend unterschiedliche Funktion – bezweckt scheint ein »Im-provisieren« als ein Erproben stets neuer Einsatzmöglichkeiten desselben Elements. Typisch für Lipattis Personalstil ist die angesichts einer das freie Element beto-nenden Gattungsbezeichnung »Improvisation« überraschend durchstrukturierte kompositorische Ordnung, in der, jedem Eindruck von Beliebigkeit entgegenwir-kend, stimmliche Durchdringung und Ausgewogenheit, symmetrisch-kanonische Arbeit, komplexe, systematische Entfaltung des kompositorischen Kerns der chro-matischen Kleinschrittigkeit von einer großen inneren Gesetzmäßigkeit und plan-mäßigem Denken zeugen, hinweisend auf ein formales Denken klassizistischer