2.4 Werke der rumänisch-französischen Stilsynthese 367schem Charakter, das zweite unerbittlich, kühn, aufgeregt.«265 Diese charakterli-chen Kontraste sind Grundpfeiler der gesamten Fantaisie. Im ersten Satz stehen sie sich blockhaft gegenüber in der Abfolge Andante malinconico – Vivace – Andante ma-linconico – Vivace. Durch die Satzbezeichnung »malinconico« wird die melancholi-sche Grundstimmung also explizit benannt. Am Anfang des Stückes steht ein ein-zelner, beständig als halbe Note repetierter Ton gis’, dessen Wiederkehr in der Un-terstimme von zeitlich versetzten, harmonisch variierenden Zweiklängen beantwor-tet wird.266 Er bewirkt eine sphärische Klangentwicklung durch die stete, immer wieder glockenähnlich ausklingende Wiederholung eines Zentraltons. Dieser ist das Zentrum des sich langsam herausschälenden Hauptmotivs, das vor allem rhythmi-scher Natur ist. Melodisch zentriert sich das Motiv um die Bewegung einer lamen-tohaft fallenden Sekunde:Notenbeispiel 118: D. Lipatti: Fantaisie pour piano solo, Editura Muzicală, 1999, 1. Satz, Takte 1–4. Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Editura Muzicală.In dem Drängen von Tonwiederholung und markantem Rhythmus in pendelartiger Gesetzmäßigkeit liegen der Motor und die metrische Basis der Steigerung, die sich hin zu Takt 29/30 in Tonhöhe und Dynamik aufbaut: Nach einem plötzlichem Aus-bruch in Dynamik und Artikulation etabliert sich die zuvor ruhig-zaghafte Thema-tik endgültig als tragender Pfeiler und setzt dadurch eine Zäsur in den gleichförmig schwingenden Bewegungsablauf. Dieser motivische Entstehungsprozess aus einer beharrlichen Tonwiederholung als Keimzelle, die in dem immer dichter gesponnenen Stimmengeflecht stets präsent bleibt, zeigt eine ähnliche Klanglichkeit wie der Beginn der Klavierkomposition La Plainte, au loin, du faune von Paul Dukas, einer Hommage an l’Après-midi d’un faune von Claude Debussy, komponiert anlässlich des Todes von Debussy 1920. Diese 265Interview mit Adriana Nicoară vom 17.05.1941 in der rumänischen Zeitung »Universul Literar«, zit. nach a.a.O., S. 4; »În introducere distingem două elemente generatoare ale întregii lucrări. Primul, cu caracter nostalgic, al doilea aprig, îndrăzneț, zbuciumat.«266Die 25-taktige Skizze, die Lipattis Pläne der symphonischen Umarbeitung andeutet, sieht an dieser Stelle Flöten und Fagott vor; identisch sind nur die Grundideen und der Anfang, auffällig ist die Ver-dopplung des Tempos.