2.4 Werke der rumänisch-französischen Stilsynthese 369Das langsame Öffnen und Erweitern des Klangraumes und die schrittweise Heraus-bildung von Motiven, etwa einem pendelnden Sekundmotiv ab Takt 20 aus einem konzentrierten Minimum heraus, verleiht diesen Passagen den Charakter der freien Introduktion mit improvisatorischen Zügen. Völlig anders als in Lipattis ein Jahr zuvor komponiertem Concerto pour orgue et piano, das von gestochen strukturierter, teilweise periodischer Geschlossenheit der Themen gekennzeichnet war, haftet der thematischen Genese in diesem Satz der Zug des Experimentellen an; an Stelle von klaren Konturen tasten die thematischen und melodischen Strukturen sich langsam aus der ostinaten Keimzelle hervor. Dieser Beginn erscheint wie eine eigenwillig-konsequente Weiterführung verwandter Verfahrensweisen aus früheren Komposi-tionen Lipattis, etwa der ähnlich subtilen Entwicklung thematischer Fäden aus einer impressionistisch bewegten Klangfläche im zweiten Satz der Symphonie Concertante oder den ostinaten Passagen im Nocturne (en fa# mineur) und in der Première Improvi-sation.268 In der Fantaisie pour piano solo bewirkt die Reduzierung auf einen Zentral-ton jedoch eine neue Qualität als eindrücklich ausdrucksstarkes und damit charak-tergebendes Verfahren, das jenseits nationalstilistischer französischer oder rumäni-scher Zuschreibungen liegt.Auf die ruhigen, rhythmisch verschobenen Halben als Hintergrund dieser ersten Passage folgt ab Takt 49 ein Vivace in den Achtelbewegungen eines 3/4-Taktes. Das von Lipatti als »unerbittlich« bezeichnete Kontrastthema ist geprägt von Alterierun-gen und Chromatisierungen, die Bărgăuanu und Tănăsescu als typisch für Lipattis Musiksprache bezeichnen.269 Es zeigt eine tonale Tendenz zu d-Moll und steht folg-lich in Tritonus-Verwandtschaft zu der ersten Thematik, eine Verwandtschaft, die auch in anderen Werken Lipattis, etwa dem Concerto pour orgue et piano oder den Danses Roumaines besteht und eine Nähe zu den Prinzipien diatonisch-chromati-scher Verschränkung, die Lendvai den Kompositionen Bartóks zu Grunde legt, er-kennen lässt.270 Wie bei der ersten Hauptidee ist auch hier keine eindeutige thema-tische Abgrenzung möglich – markant ist vor allem das Kopfmotiv, aufgebaut auf einer zehnstufigen Skala, die wiederum in zweitaktige Tonrepetitionen mündet. Notenbeispiel 121: D. Lipatti: Fantaisie pour piano solo, Editura Muzicală, 1999, 1. Satz, Takte 49–52. Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Editura Muzicală.268Vgl. die betreffenden Werkkapitel.269Vgl. Bărgăuanu / Tănăsescu, 1991, S. 179.270Vgl. III.2.6.1.2 »Modelle einer diatonisch-chromatischen Verschränkung«.