390Werkanalysenständig, in Ansätzen experimentell anwendet. So sind etwa dem Neoklassi-zismus verwandte Bausteine wie z. B. rhythmische Ostinati noch vorhanden, doch sie werden nicht mehr blockhaft gruppiert, sondern subtil integriert und entfalten dadurch eine völlig andere Klanglichkeit als etwa in den ersten beiden Sätzen des neoklassizistischen Concerto pour orgue et piano. Die harmo-nische Ausgestaltung dient vor allem dem Kriterium der Klangfarbe. Die Nähe zu zeitgenössischen Verfahren der Klangentwicklung zeigt sich z. B. zu Beginn des Werkes in der Konzentration auf die experimentell wirkende suk-zessive Erweiterung des Klangraums durch langsames Öffnen der Intervall-größen. Funktionsharmonisches Denken besteht nur am Rande; auffällig sind dabei Tritonus-Beziehungen wie in Kompositionen Bartóks. Damit stehtLipatti zeitgenössischen Komponisten nahe, die nicht als »Neoklassizisten« gelten, doch Spuren dieser Richtung in ihrem Werk erkennen lassen.– Die Einflüsse nationaler Stilistik zeigen sich nicht in direkten Übernahmen, etwa typischen Tanzrhythmen wie z. B. in den Trois Danses, den Danses Rou-maines, der Sonatine pour violon et piano, der Sonatine pour piano (main gauche seule) oder Volksweisen, denen sich noch am ehesten das Thema des zweiten Satzes annähert. Kennzeichnend sind hingegen der Gebrauch alter Modi, volksmusiknahe Zweistimmigkeit, heterophone Satzstrukturen, rhythmische Redundanz oder fluktuierend-beweglicher Klangaufbau, also modalharmo-nisch geprägte Verfahrensweisen. Nationale Elemente werden nicht negiert, aber sie wechseln in ein anderes Stadium der Verarbeitung, werden »diskret gefiltert«.280 Dadurch können sie nicht nur der rumänischen Tradition, son-dern vielmehr der zeitgenössischen Suche nach exotischen Ausdrucksmög-lichkeiten, wie sie auch den Impressionismus kennzeichnet, zugeordnet wer-den und verlieren das regionale »Kolorit des Folkloristischen«. – Auf der Ebene des Personalstils zeigen sich in der Fantaisie pour piano solo durchaus Elemente aus früheren Kompositionen, die sich hier jedoch struk-turell etablieren. Auffallend sind in dieser Hinsicht Intervallkonstellationen wie die häufige thematische Quart- und Sekundschrittigkeit, vor allem das Lamentomotiv der fallenden Sekunde, das nach der Vorstellung im ersten Satz relevant für das gesamte Stück wird, und die in Sekund-Viertelschritten auf- und abwärtsführenden Terzkonstellationen, wie sie auch im zweiten Satz der Sonatine pour piano (main gauche seule) wieder aufgenommen wer-den.281 Während tänzerische Motive mit Punktierungen, Trillern und dem charakteristi-schen Terzfall in jedem Satz der Fantaisie pour piano solo vorhanden sind, diese je-doch nur am Rande prägen, weil sie ihren ausgelassen spielerischen Impetus verlie-ren, verhält es sich mit der Verwendung chromatischer Läufe umgekehrt, da ihre in 280Ionescu-Vovu, 1999, S. 3; »strecurate cu discreție«. 281Vgl. IV.2.2.2 »Sonatine pour piano (main gauche seule)«.