392Werkanalysennationalen Stilebenen, allerdings mit neoklassizistischer Ausrichtung, wird es erst wieder 1949 in der Aubade kommen.2.4.5 AubadeDie letzten beiden Kompositionen vor Lipattis Tod sind persönliche Zueignungen an seinen Arzt und Freund Henri Dubois-Ferrière und ein Geburtstagsgeschenk für Paul Sacher: La Marche d’Henri. Petite blague pour piano à quatre mains und Aubade für Holzbläserquartett. Bettlägerig komponiert, sind beide bemerkenswerterweise voller Witz und Ironie. Den Titel der Aubade versteht Lipatti, wie in Kapitel II.4.4 zitiert, scherzhaft sehr wörtlich als Morgengruß an seinen Freund Paul Sacher, demgegenüber er diese Komposition als »blague« bezeichnet: »J’ai composé pour vous cette petite blague en trois semaines et sans avoir touché le piano, puisque ces quatre mouvements ont été écrits au lit.«284 Lipatti erwähnt Boulanger gegenüber eine geplante Radioausstrahlung der Aubade, die Sacher bereits in einigen Exemplaren habe drucken lassen:285 »On le jouera à Sottens et Béromunster; cela me donnera un trac énorme, car je ne suis pas très sûr que cette Aubade soit exécutable, du moins facilement.«286 Die Bemühungen Sachers trugen möglicherweise dazu bei, dass dieses Werk auch im Westen beständiger rezipiert wurde als die übrigen Kompositionen Lipattis. Verlegt wurde die in der »Uniunea Compozitorilor și Muzicologilor din România« archivierte Aubade 1958 bei Rongwen in New York. Sie ist durchaus auch in deutschen Konzertsälen zu hören, so etwa in einem vom WDR mitgeschnittenen Konzert am 10.10.1996 in Kleve, interpretiert vom Quartett »Aureus«, oder am 19.01.2007 in Weimar vom »Euphorion-Ensemble«. Erschienen ist eine Aufnahme mit dem »Ikarus-Quartett«.287Als Kulminationspunkt kammermusikalischer Kompositionen für Blasinstru-mente sind der Aubade einige kleinere Werke Lipattis vorausgegangen: Allegro (1936) für Klarinette und Fagott, Quintette à vent (1938), Introduction et Allegro (1939) für Flöte solo sowie die dem »Trio d’Anches de Bruxelles« gewidmete Transkription dreier Klaviersonaten Domenico Scarlattis und die Transkription weiterer sechs Klaviersonaten Domenico Scarlattis für Bläserquintett (1939), uraufgeführt vom Quintett der Pariser Philharmonie. Die Analyse der vier Charakterstücke der Aubade, »Prélude«, »Danse«, »Nocturne« und »Scherzo« wird wiederum der Frage nach der Verwendung gegensätzlicher nationalstilistischer Elemente nachgehen, die sich in diesem kompositorischen Spätstadium immer organischer zu einer Synthese verbinden.284Brief vom 27.04.1949 an Paul Sacher, in: Sacher, 1951, S. 80; »Ich habe für Sie diesen kleinen Scherz komponiert, in drei Wochen und ohne das Klavier angerührt zu haben, denn diese vier Sätze sind im Bett geschrieben.«285Vgl. Brief vom 16.06.1949 an Nadia Boulanger, Muzica 4/2000, S. 76.286Ebd.; »Man wird sie bei Sottens und Béromunster spielen; das wird mir enormes Lampenfieber berei-ten, denn ich bin nicht so sicher, ob diese Aubade spielbar ist, zumindest nicht leicht.«287Vgl. CD SP 51717.