394Werkanalysenvolksmusikalischen Assoziationen vor allem das Changieren der Terz zwischen Moll und Dur im zweiten Takt. Die kompositorische Anlage liegt in der Aubade jedoch auf einer eindeutig artifiziellen, auf stilisierende Weise »kunstmusikali-schen« Ebene mit der Funktion organischer Hinführung zu der nachfolgenden vierstimmig-polyphonen Themenarbeit, so dass nicht mehr von einem Werk »volksmusikalischer« Ausprägung gesprochen werden kann. In der rhythmischen Beruhigung einer gleichmäßig fließenden Achtelkette ab Takt 5 reduziert sich die Melodieführung auf kleinschrittige Intervalle und zitiert in der Umspielung der Noten g’ und gis’ als markantes Kennzeichen wiederum die »Formel der chromatischen Rückwendung«, die für den Mittelteil thematische Bedeutung erhalten wird.Die achttaktige Einleitung stellt im dreiteiligen Satzbau den A-Teil dar, der im Anschluss an den umfangreichen zweiten Themenblock B (Takt 8–36) als Reprise A’ (Takt 36–47) wiederkehrt, erweitert durch die Schlussbildung des Satzes. Während die A / A’-Teile schnellere »Vivo«-Einschübe aufweisen, bleibt im B-Teil das Tempo Lento stabil. Im gesamten Satz liegt jedoch kein einheitliches metrisches Ordnungs-gefüge vor, da durch häufige, unregelmäßige Taktwechsel zwischen 4/4, 6/4, 3/4 und 4/4 die Schwerpunkte unterschiedlich gesetzt und häufig vermieden werden. Mit dem Einsetzen der Oboe in Takt 8 beginnt der mehrstimmige Aufbau eines polyphonen Gewebes, in dem die Instrumente das vorgestellte Material in Parallel-führungen und Gegenbewegungen motivisch frei weiterentwickeln und überlagern. Den ersten scharfen Kontrast bringt in Takt 8 bereits die Artikulation der Oboe durch ihre staccato-Sextolen und wiederum an »Cînd a pierdut ciobanul oile« erin-nernde, ausklingende Sechzehntelrepetitionen, obwohl ihre Melodieführung analog zur Flöte eine leicht variierte Imitation der Takte 2 und 3 darstellt.Notenbeispiel 144: D. Lipatti: Aubade, Rongwen Music, 1958, 1. Satz, Takte 8–10, Oboe. Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Broude Brothers Limited. © Copyright 1958 Rongwen Music, New YorkIm B-Teil geschieht einerseits die Verarbeitung des in Takt 5 vorgestellten chromati-schen Themas, andererseits entwickelt sich aus der Abspaltung des Materials des dritten Taktes eine konstante Motivik, die, in der Oboe in Takt 9 begonnen und in jeweils variierter Form durch die verschiedenen Stimmen geführt, zur bestimmen-den Thematik des Mittelteils wird.