2.4 Werke der rumänisch-französischen Stilsynthese 405Im Unterschied zu Étincelles kommt im »Scherzo« der Aubade ab Takt 66 ein zweites, lyrisches Thema zum Tragen. Trotz seiner Eingängigkeit ebenfalls asym-metrisch gebaut, lässt seine Spannungslinie den klaren Aufbau von 5:2:2 Takten erkennen und strukturiert sich aus einer sehr schnellen Walzer-Begleitung heraus.Beide Themen Lipattis zeigen in Charakter, Rhythmus, Harmonik und Stimmführung Ähnlichkeiten, die sie in den kurzen durchführenden Passagen ab Takt 82 miteinander verschmelzen lassen. Dabei findet sich auch in diesem Satz eine versteckte »Formel der chromatischen Rückwendung« in Takt 147f in den in Sexten parallelgeführten Stimmen von Flöte und Oboe, so dass sich diese Figur als alle Sätze verbindendes Element erweist. Immer wieder aufwärts strebende chromatische Sechzehntelketten unterstreichen nun den Scherzo-Charakter, worin sich wiederum eine Parallele zu Étincelles zeigt. Völlig anders jedoch und auch gegensätzlich zu den bisher vorgestellten Themen ist ein abruptes Innehalten dieses »Feuerwerks« oder »Funkenregens« durch den Einschub eines Zwischenteils, der sich in funktionsharmonischer Ausrichtung und dreistimmig ausgesetzter Stimmführung wie ein Choralsatz entwickelt. Im Nachhinein können daher die ausgehaltenen Töne der Motivsplitter vom Satzanfang tatsächlich als Antizipation breiter Choralklänge begriffen werden. Dieses ist der stärkste Einschnitt in einem Satz der Aubade, da der Gegensatz zwischen einem tänzerisch-gefälligen Scherzo und dem ernsthaften Choral kaum größer sein könnte. Auch dies ließe sich wiederum in Bezug auf Lipattis biografische Situation deuten. Die Konstruktion erinnert zudem an eine ähnliche Entwicklung im zweiten Satz von Bartóks Konzert für Orchester. Eine nähere Betrachtung der Melodieführung zeigt, dass die Choralmelodie exakt dem Hauptthema des vorangegangenen »Nocturne« entspricht: Notenbeispiel 150: D. Lipatti: Aubade, 4. Satz, Takte 212–222.