406WerkanalysenEs besteht also nicht nur eine grundlegende Verknüpfung beider Sätze, sondern auch die zweier Gattungen, wenn auch rhythmisch und harmonisch verfremdet. Eine solche rhythmische Umdeutung eines Eigenzitats lag bereits im Nocturne (en fa# mineur) für Klavier und im dritten der Danses Roumaines vor.Der Choral wird von der Flötenstimme initiiert. Während er von Fagott und Klarinette übernommen wird, spaltet sich die Oboenstimme solistisch ab und verfremdet die ausgehaltenen Schlusstöne mit Motivsplittern des ersten Themas. Durch diese Einwürfe wird die Choralmelodie in Frage gestellt und karikiert. Der kontrastierende Effekt erreicht hier ein Extrem, da nicht nur die kombinierten Materialien gegensätzlich sind, sondern da vor allem die Assoziationen beider Themen aus Genres divergierender historischer Kontexte stammen, zum einen sakral, zum anderen mit Witz unterhaltend. Die Bezeichnung der Aubade in oben zitiertem Brief als »Blague«, nicht nur mit »Scherz«, sondern auch »Streich« übersetzbar, trägt spätestens an dieser Stelle noch eine Bedeutung. Im weiteren Verlauf dominiert die Oboe mit dem Scherzo-Motiv über das Choralthema und leitet dadurch über zur Reprise in Takt 287. Eine synkopisch geprägte Schlussstretta ab Takt 334 mündet in eine Aneinanderreihung langer, chromatischer Läufe, die einerseits Teil des akribisch durchstrukturierten Ordnungsgefüges sind und dieses andererseits in ihrer Glissando-Wirkung aufzulösen scheinen und dadurch der Aubade gegen Ende einen ironischen Ansatz von Flüchtigkeit verleihen.Die Aubade zeigt ausgeprägte musikalische Geschlossenheit. Verfahren der zyklischen thematischen Durchdringung, die Verklammerung aller Sätze durch die »Formel der chromatischen Rückwendung« und formale Gewichtung sind dafür äußere Kennzeichen: Eine Tektonik ausgewogener Proportionen in den einzelnen Sätzen findet ihre Entsprechung in der Wiederaufnahme von thematischen Ideen innerhalb der ersten beiden und der letzten beiden Sätze, wodurch im Gesamtaufbau ebenfalls eine gleichgewichtete Zweiteilung entsteht. Der Kern der Geschlossenheit liegt jedoch bereits in der stilistischen Klarheit der Motive, in denen alle Mittel charakterlich treffend zugespitzt und auf das Notwendige reduziert werden. Wie in resümierender Haltung weisen Themen und Verarbeitungsweisen die für Lipatti typischen, aus früheren Kompositionen bekannten Züge auf. Chromatische Figuren, Glissandi und Triller gelten nicht nur dem charakteristi-schen Ausdruck, sondern übernehmen zugleich dramaturgische Funktion. Andeu-tungen von Periodik und Vorhersehbarkeit werden gleichzeitig wieder gebrochen. Berechnung und Präzision halten humoreske wie innehaltende Passagen auf Distanz. Nicht zuletzt hinterlässt die Formel der chromatischen Rückwendung auf unaufdringliche Weise einen persönlichen Stempel. Bezüge zu anderen zeitgenössischen Kompositionen und den zeitnahen Strömungen sind erkennbar. Besonders auffällig ist die thematische Nähe zu Moszkowskis Étincelles. Die extreme Durcharbeitung kleinster Einheiten in der