2.4 Werke der rumänisch-französischen Stilsynthese 407thematischen Arbeit erinnert phasenweise an Bartóks Verarbeitung der osteuro-päischen Volksmusik im Mikrokosmos, etwa in der Konzentration auf systematisch zu verarbeitende Grundmuster als auch in der Orientierung an Symmetrie, Um-kehrprinzip, Intervallkonstellationen und deren komplementären Bezugsgrößen. Marco Vincenzi weist auf rhythmische und satztechnische Ähnlichkeiten zu Jean Françaix, Quartette für Bläser (1933), hin.295 In der kreisenden und variierten Wiederkehr der Grundthematik als Vermittlung innerer und äußerer Einheit kann eine Verbindung zu den Mouvements perpétuels von Poulenc hergestellt werden. Einige dieser Kennzeichen ließen sich auch als Ausdruck des Neoklassizismus einordnen. Doch auch wenn neoklassizistische Verfahren angewendet werden, ist doch der humoreske Ausdruck dieser Komposition nicht, wie etwa in der Symphonie Concertante, Resultat neoklassizistischer Verfremdungstechnik, sondern bereits im thematischen Keim selbst angelegt. Ausdrucksmittel unterschiedlicher Genres wie volksmusikalische Materialien, Jazz, Choralsatz und klassischer Themenaufbau, polyphone Arbeit verschmelzen zu einer schlüssigen Einheit, die Lipattis eigenen Personalstil offenlegt. Kennzeichnend dafür ist neben der zugespitzten motivischen Konzentriertheit der sparsame und gezielte Einsatz von Effekten, häufig im rhythmisch-metrischen Bereich, die Impulse für eine unvorhergesehene Weiterentwicklung des Kernmaterials setzen. Das in Lipattis Werk häufige Prinzip der, oft neoklassizistischen, Neuordnung von Material wendet er hier ausschließlich auf das Material selbst an, indem er z. B. das tragende Thema des »Nocturne« im folgenden Satz umkonstruiert zu einem neuen Thema desselben Tonhöhenverlaufs. Auf der Ebene der Integration rumänischer Musik sind ähnliche Prinzipien erkennbar. Bărgăuanu und Tănăsescu sehen in der Aubade die Synthese der rumänischen Musik mit der westlichen Moderne vollendet, da sie solche zeit-genössischen und traditionellen Elemente miteinander verbinde, die miteinander korrespondieren, wie z. B. die in der rumänischen Volksmusik bereits angelegte Polymetrik und Polytonalität, Chromatik, Freiheit in den Modulationen, modale Züge und polymodale Harmonik.296 Diese Aussage würde allerdings bereits auf Lipattis Frühwerk, spätestens seit der Symphonie Concertante, zutreffen. Entschei-dender dürfte sein, dass der Eindruck einer eigenen Handschrift, eines persönlich geformten Stils bei allen Motiven gleich welcher Substanz so authentisch ist, dass die Beschreibung der verarbeiteten Materialien zwar kompositorisch interessant, kaum aber der Vermittlung der charakteristischen Eigenheiten dienlich ist. Offen-sichtlich wird, dass Lipatti nicht nach geeigneten Mitteln sucht, um national-stilistisch identifizierbar rumänische Volksmusik zu verarbeiten, sondern der einmal eingeschlagene Weg der musikalischen Idee verlangt seinerseits nach spezifischen Ausdrucksmitteln, die diese Idee mit aller Schärfe wiedergeben können, und diese Mittel lassen sich treffend in Materialien finden, die sich bei näherer Betrachtung allerdings der rumänischen Volksmusik zuordnen lassen, 295Vgl. Vincenzi, 2001, S. 8.296Vgl. Bărgăuanu / Tănăsescu, 1991, S. 196.