V SchlussresümeeDie vorgenommene künstlerische Standortbestimmung Lipattis führt seine tiefe Verwurzelung in der rumänischen wie in der französischen Musikkultur vor Au-gen. Die dargestellten Lebensstationen, Rumänien – Frankreich – Rumänien – fran-zösischsprachige Schweiz, spiegeln sich kompositorisch in den stilistischen Schwer-punkten seiner Werke. Doch ebenso wie die Biografie Lipattis erkennen lässt, dass niemals der Kontakt zu Lehrern, musikalischen Personenkreisen, Konzertstätten in die jeweils »andere«, nicht räumlich gegenwärtige Musikkultur abreißt – sei es, wie in der frühen Ausbildungszeit, durch die indirekte Vermittlung der westeuropäi-schen Musikkultur durch Lipattis rumänische Lehrer, während des Studiums in Pa-ris durch rumänische Musiker vor Ort und längere Ferienaufenthalte in Rumänien, während des Zweiten Weltkrieges durch Konzertreisen in das westeuropäische Ausland und in dieser wie in der späteren Zeit ohne Reisemöglichkeit zurück in die rumänische Heimat über persönliche Kontakte und sehnsuchtsvolle Projektionen in die andere Region –, findet sich in seinem kompositorischen Werk die Gegenwart beider, französischer wie rumänischer, Stilebenen durchgängig parallel oder mitein-ander verschränkt. Die musikalischen Bezugsrahmen behalten ihre Gültigkeit, selbst neben der ebenfalls parallel verlaufenden Entwicklung einer kompositori-schen Synthese beider Einflussgrößen zu einer über sie hinausweisenden Musik-sprache. Auch die im chronologischen Ablauf erkennbare Intensivierung der Adap-tion französischer Musiktraditionen, etwa in den französischen Chansons (1941) und Mélodies (1945), hat nicht die Abkehr von spezifisch rumänischen und als solchen auch explizit benannten Ausdrucksmitteln zur Folge, vielmehr entstehen etwa zeit-gleich die von Lipatti als »curat românească«297 bezeichnete Sonatine pour piano (main gauche seule) (1941) und die Danses Roumaines (1943/45). Um diese kompositorischen Stränge nachvollziehen zu können, wurde in der vorliegenden Arbeit die Orientierung der rumänischen Schule an der europäischen, besonders der französischen Musikentwicklung nachvollzogen und die entschei-denden personellen und musikkulturellen Einflussfaktoren in Bezug auf die Person Lipatti konkretisiert. Die Wechselbeziehung zwischen westeuropäischen Strömun-gen und der rumänischen Musikentwicklung wurde deutlich: Kompositionen der ersten Generation der rumänischen Schule, etwa von Enescu, Jora oder Lazăr, verei-nen bereits die Merkmale rumänischer Tradition mit denen deutscher und französi-scher Musikstile, die in ihrer Weiterverarbeitung kaum noch ihre Herkunft erken-nen lassen. Dieses Phänomen wird dadurch verstärkt, dass verschiedene Stilmerk-male durchaus mehrdeutig sowohl auf die rumänische Volksmusik als auch auf im-pressionistische Tendenzen in der französischen Musik zurückführbar sind. 297 Vgl. IV.2.2.2 »Sonatine pour piano (main gauche seule)«.