412Die Aspekte des »style roumain« musikalischer Spezifika innerhalb der französischen Nocturne-Gattung, des Neoklassizismus oder Jazz. Im Gegensatz zu der als üblich betrachteten Pha-senfolge der Volksmusikverarbeitung – zu Beginn direkte Zitate, später kom-plizierte Volksliedverarbeitungen, danach stilistische Übernahmen und erst dann freies kompositorisches Agieren innerhalb einer selbstständig adaptier-ten Idiomatik – zeigt sich bei Lipatti im Laufe der Zeit einerseits eine größere Nähe zu originalen Vorlagen, so in der Colindă-Melodie oder der Joc- oder Aksak-Motivik der Danses Roumaines, und andererseits eine Tendenz zur Verlagerung des »rumänischen« auf die Verfahrensebene: So werden etwa »universale«, also national unspezifische Motive mittels volksmusikalischer, zum Teil modalharmonischer Prinzipien verarbeitet wie Wiederholungstech-niken mit unablässiger kleinschrittig-subtiler Variantenbildung, ausgedehn-ten, an die Form der Doina erinnernden Passagen der fortspinnenden Wie-derholung, Verweben abgespaltener Figuren in nicht-linearem Fluss, ostinate Repetitionen, Unisoni und angedeutete Heterophonie, Verzicht auf funk-tionsharmonische Zielführung, freier rhythmischer Umgang mit dem moti-visch-thematischen Material, improvisatorisch wirkende Keimzellenarbeit im Ausloten von Einheit und Vielfalt aus einem Kern heraus, polymodale Schichtung, Quartenharmonik und Terzführungen, scheinbar richtungsloses Ausklingen im Schlussaufbau durch immer stärkere Verkürzung der Motiv-teile, motivisches Innehalten bis zur Stagnation. Im Bereich dieser »rumäni-schen« Durchdringung zunächst nicht festgelegten Materials, etwa im Mittel-satz der Symphonie Concertante, der Première Improvisation, des Nocturne (en fa# mineur) oder der Aubade, entstehen die spezifischen und unverwechselbar auf Lipattis Person zurückführbaren kompositorischen Neuerungen. Durch den produktiven Einsatz der rumänischen Volksmusik als Material- oder Verfahrensgrundlage werden Normen und musikalische Erwartungshaltun-gen gebrochen und ein kompositorisches Novum von persönlicher Authenti-zität geschaffen. – Im Anschluss an den letzten Aspekt wird deutlich, dass aufschlussreich für Lipattis kompositorischen Umgang mit »rumänischen« Musikelementen nicht nur explizit rumänisch konnotierte Werke sind, sondern sich gleicher-maßen spezifische Elemente in den Werken der Stilsynthese und auch spezi-fische Verschränkungen in Werken des »style français« wie das genannte Nocturne (en fa# mineur) finden. Dass Lipattis eigene Zuschreibungen niemals Ausschließlichkeit bedeuten, wird an den beiden unterschiedlich prononcier-ten Nocturnes besonders deutlich: Das auf einer direkten Verarbeitung einer Colindă-Melodie fußende Nocturne (Thème moldave) orientiert sich maßgeb-lich an typischen Verarbeitungsweisen der französischen Nocturne-Gattung, während das zwei Jahre später entstandene als Nocturne français betitelte Ge-genstück Nocturne (en fa# mineur) charakterlich prägende Ausdrucksmerk-male kompositorischen Prinzipien der rumänischen Volksmusik verdankt.