1.1 Beobachtung 19 experimentellen Ästhetik ist dies vollzogen, als sich Ästhetik im Sinne von Aisthesis auf Wahrnehmung bezieht und ästhetische Phänomene grundsätzlich als (hedonisch motivierte) allgemeine Wahrnehmungsphänomene betrachtet. Mit der Wahrnehmung des Allgemeinen in den empirischen Wissenschaften und der Wahrnehmung des Alltäglichen in der futuristischen Kunst nähern sich Wissenschaft und Kunst ideologisch an: Das allgemeine Alltägliche wird vor das einzigartige Besondere gestellt. Die alleinige Hochstilisierung von Massenkultur durch die Gewerkschaftsbewe-gung der 20er Jahre, die Erhebung der Volkskultur zur allein wichtigen kulturellen Erscheinung in der NS-Zeit scheiterten. Kunst und Wissenschaft nehmen die Rolle der Vermittler ein, hochkulturelle Gestaltungs- und Analyseverfahren gehen eine neue Einheit mit massenkulturellen Objektcharakteren ein, es entstehen »theoreti-sche Objekte« (BROCK 1977); Pop-Art wie die Akademisierung von Pop (JACOB 1996) leisten diesen politischen Transfer, der letztlich von der Masse gelebt wird – moderne und postmoderne Haltung finden darin zusammen. Pop als gelebtes theoretisches Objekt wird dann die aus der futuristischen Avant-garde abgeleitete und von Cage und Beuys artikulierte Forderung Kunst = Le-ben : Leben = Kunst im Alltagsleben verwirklichen und mit Hedonismus zusammen führen, den die experimentelle Ästhetik früh in die empirischen Wissenschaften eingebracht hatte; Pop als eine hedonische Körperkultur einer Erlebnisgesellschaft des Alltags. Der Empirie ist die Zuwendung zur Masse mehrfach eingeschrieben. Anhand der Musikalitätsforschung (als Derivat der Intelligenzforschung) ist die wesentli-che Grundhaltung naturwissenschaftlichen Denkens darstellbar: Der monologisch-deduktive Forschungsvorgang beabsichtigt, allgemeingültige Aussagen mit Hilfe der Beobachtung des (statistischen) Einzelfalls zu untermauern – Allgemeinaussagen können nicht auf der Beobachtung des Besonderen, sondern nur des Allgemeinen basieren; die Beachtung des Allgemeinen ist somit Implikation der Methode. Musika-lität wird nicht an der Beobachtung solcher als musikalisch bezeichneter Individuen studiert, Musikalität wird abseits der Gefahr dieser in sich kurz geschlossenen Definition1 an der Allgemeinheit beobachtet. Einer ideologischen Überformung des Begriffs, die ihn – mit einem Bias – einseitig verzerrt betrachtete und vom genie-haften Künstlerbild der Romantik mitgeprägt war, wird ein bipolares Verständnis entgegen gesetzt: Musikalität wird als eine Eigenschaft definiert, die jeder hat, nur der Grad der Ausprägung ist variabel. In Der Mann ohne Eigenschaften nimmt Robert MUSIL die gesellschaftliche Bedeutung dieser Sicht vorweg. Dieser methodische Zugang impliziert eine ideologische Haltung, die mit der Sicht einer horizontalen Gesellschaft und der Gleichberechtigung aller ihrer Mitglieder einher geht. Der Wiener Kreis formuliert jene Haltung in wissenschaftlicher Methodik der Erkenntnistheorie und lebt in der Nähe der (österreichischen) Sozialdemokratie. Otto Neuraths Tätigkeit in der Erwachsenenbildung zeugt von jener Haltung; nicht nur diese Parallele findet sich zu Williams, dem Begründer des Birmingham 1 Dass diese Sicht den Einfluss kultureller Traditionen, sozialer und ökonomischer Bedingungen von Musikalität, also Sozialisationseffekte über das Leben mit Musik nicht ausschließt, ist evident. Das Studium der Musikalität an der Bach-Familie ist demnach vermengt mit dem Fokus auf das Besondere, auch die besonderen Bedingungen der »Umwelt«, der Familie im jeweiligen historischen Konnex.