1.2 Wahrnehmung 31 1.2.3 Wissenschaft und Kunst – eine gegenseitige Annäherung über die systematische Wahrnehmung Das, was heute als Wissenschaft und Kunst, meist verkürzt als die Anwendung von wissenschaftlicher Erkenntnis oder bloß die Verwendung technologischer Her-vorbringungen in der Kunst, oder einfach als scheinbar zeitgemäßes Postulat und Programm schaffende Synthese erscheint, ist als künstlerische Avantgarde aber auch als Avantgarde postmodernen Denkens angelegt und findet in den Medien-Künsten einerseits und in den empirischen und kognitiven Wissenschaften andererseits in Wahrnehmung als aktivem Prozess eine gemeinsame Begründung: Wissenschaft und Kunst reflektieren letztlich wirklichkeitsbildende Prozesse. Wissenschaft wie Kunst finden damit im gemeinsamen Interesse am Wahrnehmen zueinander. Die Empirie versucht Wirklichkeit durch Beobachtung zu rekonstruieren, die Kunst beobachtet die Konstruktion von Wirklichkeit - durch die Bildung von Modellen wirken beide letztlich auf die subjektive Wirklichkeit ein. Die Empirie schafft Wissen aus der Beobachtung, die Kunst beobachtet Wissens-Schaffen. Im-plikationen des Wahrnehmens, die eine objektive Erkenntnis verfärben, versucht die Wissenschaft mit ihren Methoden ausschaltend zu kontrollieren. Gerade je-ne wirklichkeitsbildenden Aspekte der Wahrnehmung fokussiert die Kunst in der Medienkunst. Medienkunst ist jene um Erkenntnis bemühte Kunst, ein zur Wissenschaft paralleles Erkenntnismedium, das – erst mit der Dominanz der elektronischen Medien in den sechziger Jahren allgemein bewusst geworden – den Prozess der Informationsverarbeitung- der menschlich/sozialen wie der technischen5 – als wirk-lichkeitsgenerierendes Instrument thematisiert – und damit die Konstruktion von Wirklichkeit (WIENER 1998). Thomas WULFFEN (1999, S. 38) bezieht sich in seinen »Überlegungen zu einem prekären Verhältnis« von »Kunst und Wissenschaft« auf Oswald WIENER, wenn er Gemeinsames zwischen den Disziplinen ortet. »Das ästhetische Erleben steht [. . . ] nicht im Gegensatz zum Erkennen, es umfaßt Erkennen, es ist Erkennen« (WIENER 1998, S. 37). Mit der Zusammenführung der Wahrnehmungsdimension mit dem Erkennen steht WIENER aber bereits in der Tradition der Vorfahren der experimentellen Ästhetik wie der strengen Wissenschaften der Empirie. In den empirischen Wissenschaften bedeutet das Erkennen durch Beobachtung das Wahrnehmen als methodische Implikation. BAUMGARTENs Vorstellung von sinnlichem Erkenntnisvermögen (WELSCH 1996, S. 65) wird in der wissenschaftlichen Arbeit MEINONGs radikal weitergeführt. Alexius MEINONG ist der erste Inhaber des Lehrstuhls für Wissenschaftstheorie und zugleich Gründer des psychologischen Labors der Universität in Graz. Als Philosoph galt sein Interesse den daseinsfreien Bereichen der Logik, Mathematik und besonders der Werte, also Denksystemen. Sein Interesse innerhalb der Psychologie galt dem 5 Die Modelle des information processing in den Human-Wissenschaften wie in den technischen Wissenschaften, beide wissenschaftstheoretisch reduktionistisch angelegte Disziplinen, worin die Möglichkeit gemeinsamer Grundannahmen liegt, sind auffällig ähnlich und scheinen sich ge-genseitig zu beeinflussen – sie sind eine Vorstellung über menschliche Informationsverarbeitung, der maschinellen entlehnt oder gar ähnlich, oder ist dies umgekehrt?