32 Von der Achtung des Besonderen zur Be-ob-achtung des Allgemeinen Wahrnehmen als methodischer Implikation des Erkennens – insgesamt war der Fokus seiner Arbeit am Erkennen der Wahrnehmende und nicht das Objekt. Wahrnehmung zeigt sich als crucial point, an dem sich Wissenschaft und Kunst treffen; Wahrnehmung als Prozess der Wirklichkeitsbildung wie als Methode der Wirklichkeitserkenntnis in den empirischen Wissenschaften. Die Kunst könnte somit als eine der Wissenschaft parallele Forschungsstrategie gesehen werde. Vor jeder wissenschaftlichen Erkenntnis steht allerdings die Wissenschaft der Erkenntnis: Die Erarbeitung von Theorien und Methoden zur Erkenntnisgewinnung abseits des Forschenden. Die Kunst huldigte zu lange dem romantischen Verständnis des genialen Einfalls und überlässt ihre theoretische und methodische Fundierung der Wissenschaft. 1.2.4 Wahrnehmung und Immaterialität Sowohl in der strengen Wissenschaft als auch in der zunehmend formdominierten Kunst des 20. Jahrhunderts ist das Materielle der Primat, zumindest das von der Materie generalisierte Sein. Selbst die Frage, warum Materie eine bestimmte Wahrnehmungsform annimmt, wird materiellen Vorbedingungen des Wahrnehmens zugeschrieben, die sich als wahrnehmungsleitendes Denken erweisen. Gestalt – ein der Sprache über Erschei-nungsformen der Materie entlehnter Begriff – entsteht durch die spezifische Anord-nung erkennender Materie, ihre Struktur ist nativistisch gegeben. Diese Sicht der Gestalttheorie führt weg von den Abbildvorstellungen, sie nimmt einen Reorganisati-onsvorgang der Außenwelt durch denWahrnehmenden an. Für die Gestalttheoretiker des beginnenden 20. Jahrhunderts war es jedoch noch undenkbar, dass Materie durch den Geist formbar ist. Die Lerntheorien zeigen, dass diese Reorganisation der Materie in der Wahr-nehmung erworbenen Mechanismen unterliegt und dass diese zu tatsächlichen materiellen Manifestationen, zu neuronalen Veränderungen führen. Materie formt Geist(iges) und Geist(iges) formt Materie. Kognitive Theorien lassen heute auch Vorstellungen (Illusionen) ins Reich der nachweisbaren Existenzen ein. Abseits ad-äquater Außenreize treten Wahrnehmungsinhalte auf. Kognitive Implantate werden erregt, selbst durch cues aus anderen sensorischen Bereichen, und führen zu ihrer Wahrnehmung abseits des Vorhandenseins der wahrgenommenen Materie. Wenn auch der Welt der Wissenschaft das Erleben abseits der strengen un-mittelbaren Bindung an die Materie spätestens seit Plato bekannt war, hat der Empirismus strengerweise den Beweis der Existenz an die Wahrnehmung der Materie geknüpft. Erst die Adaption der auf Erkenntnis über Materie gerichteten Methode (des physikalischen Experiments) auf das Erkennen nicht-materieller Erscheinungen in den Humanwissenschaften machte auch in ihren experimentellen Disziplinen Nicht-Materielles als die Wirklichkeit Bestimmendes beobachtbar. Allgemein vollzog sich ein Haltungswechsel seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert: Realität hat sich gelöst von materieller Existenz, Nicht-Materielles wird als Wirk-lichkeit (an-)erkannt, Wirklichkeit ist nicht mehr an die Subjekt-Objekt-Beziehung, an jegliche Beziehung zur Außenwelt, gebunden. Digitale Repräsentanz schließlich zwingt potentielle Immaterialität und Immaterielles als Wirklichkeit anzuerkennen.