46 Von der Achtung des Besonderen zur Be-ob-achtung des Allgemeinen Als eigentlicher Motor des Eindringens von Technologie in die Künste kann wohl die Etablierung der Naturwissenschaften gelten, aus deren anwendbaren Ergebnissen letztendlich die Technologien resultieren. Neben dieser unmittelbaren Auswirkung sind aber die für die Kunstdiskussion bedeutenderen Innovationen aus der Naturwissenschaft vor allem die Abkehr von mystischer Verklärung ästhetischer Phänomene durch ihre naturwissenschaftliche Beschreibbarkeit und Erklärung – wie sie FECHNER (1876) in der Vorschule der Ästhetik versuchte – und die durch den natur- und später sozialwissenschaftlichen empirischen Zugang erkennbare Vielfalt möglicher Erklärungen der Erscheinungen unserer natürlichen Welt, die allgemein im 20. Jahrhundert zu pluraler Weltsicht führt (DELAERE 1990). Damit wird die normative Sicht der Moderne durch eine plu-rale der Postmoderne ersetzt. Dieser – sicherlich methodenabhängige – Pluralismus der Erklärung der Wahrheit der Dinge prägt langsam auch das gesellschaftspoliti-sche Denken und führt damit zu demokratischen Systemen. Es bestimmt langsam auch die Haltung der Künste, die abseits von richtig und falsch, bezogen auf eine Norm, gleichzeitig existierende Theorien erlaubt, die (aus unterschiedlichen Aspek-ten betrachtend) jeweils Arbeiten als adäquat oder nicht adäquat ausweisen. Eine Musiktheorie des 20. Jahrhunderts oder länger währender Zeitstile existiert nicht. Es gibt eine theoretische Fundierung begrenzter Stile: von Schulen, von Personen, ihren Entwicklungsphasen, ihrer Werke. »Den Naturwissenschaften nacheifernde, gesetzesähnliche Formulierungen, die aus logischen Verknüpfungen abgeleitet wer-den, oder eine Zusammenschau symbolischer Bedeutungen sind durch die Vielfalt musikalischer Äußerungen undenkbar geworden. Ein einziges hierarchisch aufge-bautes System von Aussagen über Musik kann heute nicht einmal als Möglichkeit geglaubt werden« (de la MOTTE-HABER & NITSCHE 1982, S. 15). Modernes na-turwissenschaftliches Streben nach Sicherheit und Gesetzen (in der Adaption der Methoden auf die Human- und Sozialwissenschaft als Theorie mit bestimmtem Geltungsbereich verstanden) verkehrt sich in postmoderne Unsicherheit und Plura-lität: Zusammenraffende Abstraktion zur uniformierenden Verallgemeinerung der Einzelerscheinung steht der Anerkennung der Vielfalt der Einzelheit gegenüber – ohne deren Besonderheit zu betonen. Sozialwissenschaftliche Einsichten führen schließlich (auch durch die Adaption naturwissenschaftlichen Denkens und seiner Methodik) zum Wissen um die Plu-ralität auch sozialer Systeme und in soziologisch geprägter ästhetischer Sicht zu Theorien, die den Erkenntniswert von Kunst für die Gesellschaft als Kriterium für die Adäquatheit von Kunst ausweisen; sie werten die Kunst beispielsweise als jeweils sozial wahr (ADORNO 1970), wenn sie sich der Verführbarkeit entzieht. Solche ästhetischen Theorien, die letztendlich der Geisteshaltung der sechziger Jahre ent-springen, bewerten Pop als sozial nicht wahr, weil Pop durch seine innermusikalische Struktur emotionales Hören provoziere und damit Verführbarkeit – Verführung zur Affirmation kapitalistischer Systeme. Was ADORNO als Gefahr kommerzieller und politischer Monopolisierung sah, hat sich in der Praxis (nach ihm) als Alternative und Pluralitätsherausbildung in der Pop-Kultur erwiesen – zwar (richtigerweise) durch initiierte Verführung, jedoch durch Verführung zur Gegenhaltung – mög-licherweise könnte ADORNO diese Uminterpretation von »sozial wahrer Musik« hinsichtlich des Erreichens (s)eines Ziels annehmen: Pop-Kultur der zweiten Hälfte