2.1 Parallele Sicht der Wirklichkeit 57 gen horizontale Strukturen zugedacht und damit informelle Strukturierung – sie hat damit die heute gelebten Kommunikationsstrukturen (sowie Wirtschaftsstrukturen des alternativen technoiden Pop) exploriert. Die Erfahrung von Vielfalt wie der Veränderlichkeit gebiert notwendigerweise Toleranz. Toleranz ist (somit auch) ein Anpassungsverhalten an geänderte Bedin-gungen und nicht eine moralische Größe. »Das gleichzeitige Innehaben einander entgegengesetzter Rollen [. . . ] Die Vielzahl der Haltungen und die unschlüssige Suspension sowohl des Glaubens als auch der Ungläubigkeit sind kein ästhetischer Luxus mehr, sondern eine Lebensnotwendigkeit. Denn worauf kann man sich ohne Selbstbetrug und mit ganzem Risiko verlassen?« (SHUSTERMAN 1994, S. 143). Pluralismus existiert »nicht bloß im Makrobereich der Gesellschaft, sondern dringt bis in den Binnenraum der Individuen vor. Genau dies ist es, was sich gegenwärtig – postmodern – fortsetzt und steigert. Es kommt zu einer Verbreiterung des Iden-titätsfächers und zur Generierung neuer, betont pluraler Identitäten« (WELSCH 1993, S. 179). Paul VALERY (1960) hat es für die Wissenschaft und ihren Akteur konstatiert, Friedrich NIETZSCHE (1980) bereits 1886 im »Vorspiel in deutschen Reimen zur Fröhlichen Wissenschaft« postuliert, was Cindy Sherman als postmoder-ne Performance-Künstlerin hinsichtlich der Vielfalt der Frauenrollen – wenn auch nur moralische Grenzen durchbrechend – vereint in einem Individuum durchführt. »Die Arbeiten von Cindy Sherman wagen sich in dieser Problemsphäre eminent weit vor. Sherman führt eine quasi kernlose, rein aus der Vielheit der Möglichkeiten bestehende Identität vor Augen. Substanz, das traditionelle Modell von Identität, ist vollständig durch Attribute bzw. durch eine Vielzahl externer Wirklichkeiten und Rollen ersetzt« (WELSCH 1993, S. 180–181). WELSCH schreibt der Sherman’schen Arbeit Erkenntniswert zu, wertet das ähnliche Arbeiten mit Rollen von Madonna mit BENJAMIN als »ewige Wiederkehr des Neuen«, als Mode. Möglicherweise ist die Einschätzung der als Kunst begreifbaren Tätigkeit von Sherman übertrieben, möglicherweise macht sie etwas, was bereits Wissen ist, möglicherweise wird Madon-nas Tun im Soge der allgemeinen Bewertung des Populären unterschätzt, nämlich die affirmative Funktion, Pluralität zu einer Lebenshaltung zu machen (JAUK 1994). »Identität entsteht [. . . ] im wörtlichen Sinn durch Identifikation«, wie WELSCH (1993, S. 181) selbst anmerkt. Das Aktionsfeld von Madonna ist nicht das von Nischen der Kunst, es ist das Feld des Alltags. Plural ist nicht nur die Postmoderne, sie proklamiert und affirmiert diese. Plurali-tät ist Signum der Moderne wie der Postmoderne. »Lyotard sagt wie Adorno, ja mit Adorno, daß die moderne Kunst plural sei, weil sie aus der Auflösung des Ganzen, dem ›Niedergang der Metaphysik‹ hervorgegangen sei« (WELSCH 1993, S. 93). Der Unterschied liegt in der Bewertung: der Moderne liegt die »Einheitssehnsucht«, der Postmoderne die »Vielheitsoption« zugrunde (ebenda, S. 93) Es »experimentiert die plurale moderne Kunst der Moderne mit der Gesamtheit der medialen Möglichkei-ten «, in der Postmoderne herrsche die »Utopie der Vielheit als Glücksgestalt [. . . ], Vielheitslust« (ebenda, S. 94–95) fasst WELSCH (1993) LYOTARDs (1982) Essays zu einer affirmativen Ästhetik zusammen, womit er die negative Sicht Adornos zum Trügerischen des Glücks in der Vielheit (ADORNO 1973) meint.