2.3 Postmoderne Kunst: Kunst des Denkens 61 Paradigmenwechsel der Neuen Kunst ist ein Paradigmenwechsel einer am Primat des Sehen orientierten – im postmodernen Sinn überholten – Bildenden Kunst. Der modernen Kunst schreibt LYOTARD die Dekomposition der traditionellen Kunst zu: »Sie führt isolierte Elemente des Bildnerischen, Momente des Kunstbe-griffs, Teile des Integralphänomens Kunst vor Augen« (WELSCH 1993, S. 86). Er hält die moderne Malerei durch die »Auflösung der Objekte, der Zustände, der Konfiguration, der Orte, der Arten [. . . ], welche bis jetzt die Institution Malerei ausmachten« (LYOTARD 1982, S. 51) bestimmt und will letztlich auf die Lyse des Werkes (ebenda) hinaus. Nicht an die Dingwelt gebunden stellt sich die Idee des Werkes in der Musik anders und brauchbar dar. Es ist die einmalige, in sich konsis-tente Setzung einer Idee, meist in Form eines Zeichensystems, eines Textes, einer Handlungsanweisung zu seiner sinnlichen Erfahrbarkeit, sie bleibt aber stets eine zeichenhafte Manifestation eines Denksystems. Und dort, wo man dem menschlichen Geist misstraut als historisch vorgeprägten und als sensorisch gefilterten Schöpfer, als Knecht von Ideologien, besinnt sich dieser des gemeinsamen Ursprungs und macht (wieder) mathematisches Denken zur Quelle musikalischen Denkens. Externe Determiniertheit macht der mathematischen Willkürlichkeit Platz. Das musikali-sche Werk ist vollends und explizit repräsentiert durch die Logik der Mathematik, eines dem Willen unterworfenen Denksystems. Das Gesetzte, das Einmalige, das Abgeschlossene – die Vorstellung des 19. Jahrhunderts – wird im 20. Jahrhundert zu-nehmend durch die offene Form und Strukturvariabilität der willkürlichen Reihung hinterfragt und beginnt dem Entstehenden zu weichen. Es sieht das Werk als work in progress und vollzieht Schritte am Weg der Lösung gestaltender Probleme; es stellt ein Experiment in der Serie der Experimente (vgl. LYOTARD 1985; WELSCH 1993) des kompositorischen Prozesses dar. Damit wird der einzelne Schöpfer durch eine Reihe von Schöpfern ergänzt, die gleichsam Replikationen von »Experimenten« zur Steigerung der Sicherheit von »Erkenntnis« vollführen, schließlich wird der einzelne Schöpfer (wieder) durch das (musizierende) Kollektiv befreit – ein Prozess, der in der Wissenschaft als Methode der Objektivierung von Erkenntnis dient. ADORNOs kritische Bemerkungen zur musikalischen Objektivation gehen davon aus, »dass Musik insgesamt, und zumal die Polyphonie [. . . ] in den kollektiven Übungen von Kult und Tanz entsprang, ward nicht als bloßer ›Ausgangspunkt‹ durch ihre Ausbildung zur Freiheit einfach überwunden. Sondern der historische Ursprung bleibt ihr eigenes Sinnesimplikat, auch wenn sie längst mit jeglicher kollektiver Übung gebrochen hat. Polyphone Musik sagt ›wir‹, selbst wo sie einzig in der Vorstellung des Komponisten lebt und keinen Lebenden sonst erreicht« (ADORNO 1958, S. 23–24). Den Vollzug zum Wir nimmt der Free Jazz vor durch den Fall des an die Ein-zigartigkeit und das Virtuosentum gebundenen Primat des Handwerks durch seine augenblickliche »Schöpfung«. Die Lösung der durch die Positionierung von Produ-zent und Rezipient definierten Konzertsituation im Happening-Konzert macht den Rezipienten zum Partizipienten, dieser Vorgang geschieht bereits auf der Kunst-haltung: Kunst = Leben. Mit der Elektronik und vor allem ihrer wirtschaftlichen Verfügbarkeit, genährt durch den breiten Boden der Akzeptanz des Amateurs als Auswirkung der Pop-Ideologie und des ideologischen Wir-Denkens der sechziger Jahre, wird dann Partizipation, und letztlich Interaktion als Methode kollektiven