62 Der Weg in die Postmoderne informellen Gestaltens realisiert. Abseits des Elitedenkens erobert sich Kunst den öffentlichen Raum, selbst durch nicht bewusstes Mitgestalten; Kunst und Leben treten zueinander. Die Lyse hat sich in der Musik radikal vollzogen als Lyse des Werkes, die implizit die Öffnung zum Kollektiv und die Partizipation vorweg ge-nommen hat und den Schritt in den öffentlichen Raum getan und nicht nur die Verneinung des Gestaltens durch Eliten, sondern das nicht bewusste Mitgestalten der anonymen Öffentlichkeit (beispielsweise in Netzwerken des world wide web) erobert hat. Die von der Wissenschaft geforderte kritische Position (POPPER 1934), die Unsicherheit der stets vorläufigen Erkenntnis, findet ihre Entsprechung in der Kunst in der Abkehr vom Werk als das von einem einzelnen Besonderen Geschaffene und der Zuwendung zur Vielfalt des durch selbstorganisierende Prozesse Entstehenden. Nicht nur wegen des Zweifels an Immaterialität ob des Wissens um eine stete Subjekt-Objekt-Relation, die uns physikalische Beziehungen im Denken annehmen lässt (vgl. LEVY 2000) gilt es die Vorstellung von Prozessualität vom Kinetischen (vgl. POPPER 1991) zu ersetzen durch eine Prozessualität des Kommunikatorischen – der Auditorische Raum wird dabei als Paradigma des prozessualen Kommuni-kationsraum erachtet (vgl. McLUHAN 1995; GROßKLAUS 1995; WELSCH 1996). Kommunikationstechnologie und ihre Verfügbarkeit werden Prozessualität in Kunst und Leben begünstigen. Die kritische Diskussion einer an die Dinghaftigkeit gebundenen Kunst des Den-kens, präsentiert in der Einzigartigkeit des Werkes, bringt uns in die Nähe der prozessualen als Kommunikationskünste und damit in die Nähe zur Musik. »Traditionelle Kunst vertraute auf eine Wirklichkeit, die sie wiedergeben, über-höhen oder beschönigen konnte. Wiederum losgelöst von der Dinghaftigkeit hat traditionelle Musik niemals eine Wirklichkeit dieser Art wiedergegeben. Die Malerei hat erkannt, daß sie nicht von einer Realität, sondern von sich selbst ausgehen, mithin reflexiv verfahren muß« (WELSCH 1993, S. 87), dass sie sich je auf die Suche nach der Regel ihres Tuns begeben und immer neue Regelexperimente durchführen muss. Angesichts dieser Wirklichkeitslosigkeit der Musik hat ihre Forschung und Theorie, dem menschlichen Denken in physikalischer Bestimmtheit gemäß (vgl. LE-VY 2000), eine Vielzahl mehr oder weniger natürlicher Untermauerungsversuche (als Theorien) von willkürlichen Regelsystemen vorgenommen, die sie selbst bestimmt hat. Musik als theoretisches Konstrukt stellte selbst immer die Frage, was Musik ist. Ihre Selbstreflexion bestimmt das Wesen ihrer Hervorbringung – Musik ist aus sich heraus theoretisch begründet. Solche Musik hat erkannt, Produkt der Erkenntnis »beziehendes Denkens« (RIEMANN 1914/15) zu sein. Musik ist das stete Experiment mit den jeweils erkannten Regeln beziehenden Denkens. Selbst im Werk ist Einzigartigkeit mit der Ahnung verknüpft, dass keine Darstellung hinreichend, endgültig, definitiv ist. Denn es hat mehrere Existenzfor-men und ihre Umsetzung in die Realität des Rezipienten impliziert im Falle der klanglichen Realisierung selbst eine die Klanggestalt formende Interpretation als Schaffung einer Wirklichkeit. Die Improvisation ist das stete Neuexperiment, die Flüchtigkeit der jeweiligen Wirklichkeit äußert sich selbst darin, dass sie authentisch nur technisch aufgezeichnet und so die Dokumentation einer vergangenen Wirklich-keit ist. Ihre Niederschrift ist die Transformation in ein Zeichensystem, das eine