2.3 Postmoderne Kunst: Kunst des Denkens 63 Denkform impliziert – dies ist eine reflexive Tätigkeit, die bereits zu einer anderen Wirklichkeit führt. Das Erhabene im Sinne Lyotards ist das stete Experiment, »es richtet sich eher aufs Unendliche der durchzuführenden plastischen Versuche als auf die Vorstel-lung des Absoluten« (LYOTARD 1985, S. 99), ein überkommenes, romantisches Erbe. »Diese Version des Erhabenen – seine Transformation in eine Serie von Experimenten – wendet sich kritisch gegen jegliche Endgültigkeitbehauptung, ge-gen den Positivismus des Realen« (WELSCH 1993, S. 91–92). Popper hat mit dem Falsifikationstheorem des kritischen Rationalismus diese Skepsis vor offenen oder verdeckten Absolutheitsanmaßungen zum wissenschaftstheoretischen Postulat an Erkenntnis gemacht. Als Versuche der Annäherung an die Wirklichkeit wie in deren Gestaltung ist Wissenschaft ein Prozess, ist Kunst ist ein Prozess. Musik ist in ihrem theoriegebundenen Fortschreiten das Zeugnis der Erkenntnisschaffung über den Wahrnehmungsmechanismus, der uns in eine Wirklichkeit über den Indikator beziehendes Denken einblicken lässt. Präsentieren die Vorstellungen des Experiments von LYOTARD die wissenschaftli-che Form des Erkundungsexperiments, so ist es denkbar, dass das Experiment als Prüfverfahren jeweils vorläufigen Wissens auch im künstlerischen Experiment seine Entsprechung findet. Die künstlerische Idee ist Hervorbringung reflexiver Prozesse in einem gesellschaftlichen Gefüge, ihre Formulierung im künstlerischen Experiment ist Prüfverfahren für die Existenz einer sozialen (Teil-) Wirklichkeit. Und wie sozi-alwissenschaftliche Experimente nicht nur Wirklichkeit prüfen, sondern sie durch ihre Existenz zugleich auch (mit-) gestalten, gilt dies auch für das künstlerische Experiment im sozialen Raum. Das wissenschaftliche, das künstlerische, das soziale Experiment treffen sich im Schnittfeld von Moderne und Postmoderne, im Schnittfeld von Kunst und Wissenschaft. Ist dieses Fortschreiten in der Zeit meist mit Brüchen, mit vermeintlichem Widerle-gen des Vorangegangenen verknüpft, so herrscht nun die Parallelität, die Pluralität, die den Möglichkeitscharakter entfaltet, wohl auch als weitere Konsequenz des Experimentierens. Musik wie die Bildende Kunst sind davon geprägt; ein Motor dieser Haltung dürfte die Wissenschaft, die zunehmend ausdifferenzierenden Er-kenntnismethoden der Naturwissenschaft, sein. Sie hat sich gewandelt von der Vorstellung einfacher, monokausaler Beziehungen (und deren Verkettung), über die Annahme multivariater zu parallelen Verknüpfungen und schließlich zu wechselseitig sich verändernden Steuerungen, eingebunden in Systeme. Mit dieser methodischen Entwicklung geht auch eine Entwicklung in Richtung Toleranz gegenüber Existenzen jeder Art einher, ein Pluralismus auch in Gesellschaft und Politik. Pluralismus als Weltbild, Pluralismus als Anpassungsverhalten an eine sich vielfältiger zeigende Welt. Das, was WELSCH in Berufung auf LYOTARD sagt, gilt für alle Lebensbereiche: »Die verschiedenen künstlerischen Möglichkeiten verkörpern Grundmöglichkeiten, die heterogen und inkommensurabel sind, weshalb das Feld der Modernen Kunst plural nicht in einem oberflächlichen, sondern in einem einschneidenden und radi-kalen Sinne ist« (WELSCH 1993, S. 92). Die musikalische Praxis gibt auch davon Zeugnis ab und sie ist Mitgestalter eines solchen Weltbildes. Das 20. Jahrhundert kennt keine Theorien der Stile, der Epochen, sondern Theorien für Individuen und