106 Populäre Kultur und ihre Musik hinsichtlich der Produktion der ökonomischste, die Rolle der Frau ebenso Kin-derkommunen sind Eingliederungs- wie Aufbewahrungsinstitutionen zugleich. Der Arbeiterbewegung kann man wohl Bewältigungswillen als Motiv ihres Handelns zugestehen. Das Dritte Reich hat diese materiell gegebene Notwendigkeit für primär ideologische Ziele genutzt und damit eine Funktionserweiterung vollzogen und jene in der Industrialisierung notwendige Disziplinierung auf das Leben generalisiert. Ähnlich den Produktionsabläufen in der Fabrik wurde das soziale Leben organisiert und in ein Netzwerk von sozialen Beziehungen eingebunden und das Individuum damit kontrolliert. War in der Arbeiterbewegung der Körper das Instrument von Arbeit und deswegen wertvoller Disziplinierungsgegenstand, wurde der Körper im Dritten Reich zum Medium der Disziplinierung, wohl auf der Basis traditioneller Methodik christlicher Kultivierung durch Körper-Verneinung. Die Kulturindustrie ergänzte dieses Disziplinarregime, indem sie neben dem Körper auch die Seele integrierte. Denn hier durfte sich der in die Produktion eingespannte Körper nach Feierabend im Gehege der »Seele« erholen und sich für den nächsten Tag wiederherstellen. Damit wurde tendenziell auch die Freizeit zur Arbeit, denn der »Freizeitler« hatte sich an der »Einheit der Produktion« auszurichten (HORKHEIMER & ADORNO 1986, S. 11). Die Kulturindustrie versprach und bot dieses Paradies, allerdings als wirtschaftspolitisch motivierte und kontrollierte Spielwiese zum Totleben von Gegenhaltung, als Hedonismus erlebte Disziplinierung. Vermutlich ereignet sich diese Disziplinierung im (selbst der Gegenkultur nicht fremden) verführerischen Kleid des Konsums. Die emotionale Qualität von Musik spielt dabei eine bedeutende Rolle. Ihre bewusste Provokation ist die Funktion von Pop als Mittel der Affirmation (HORK-HEIMER & ADORNO ebenda), als Provokation der Gegenhaltung (BORRIS 1977) wie als Zentrum hedonischer Kultur (BOHRER 1979). Adornos Postulat einer »wahren Musik« lässt sich demnach nicht nur als Verstärkung des autonomenWerkes, sondern als ein, aus der heutigen Sicht der Erfahrung über Produktion und Rezeption von Pop-Musik nachvollziehbaren funktionalen Bezug dieser Musik lesen. »Wahre Musik« stehe nur für sich selbst und habe keine Funktionen, sei damit nicht missbrauchbar, weder sozial, noch wirtschaftlich oder politisch. Seine Vorstellung der ausschließlichen Affirmation der kapitalistischen Gesellschaft hat das Spiel zwischen Dissidenz und Verkauf von Dissidenz relativiert – schließlich sind alternative Bewegungen aus der Spielwiese der Gegenhaltung hervor gegangen. ADORNOs ästhetisches Postulat einer »wahren Musik« ist als politische Warnung zu lesen. Wahre Musik ist nur auf sich bezogen und steht in keinen funktiona-len Bezügen, ist somit politisch nicht missbrauchbar. Dass der nachvollziehende Strukturhörer der adäquate Hörer wahrer Musik sei, erregt ein Bild von Musik, das HANSLICK als tönend bewegte Form beschrieb. Beiden ist die Ablehnung emo-tionsbezogener Ausdrucksästhetik und der entsprechenden Musik sowie eine ihr adäquaten Rezeptionsart (die ADORNO dem Emotionshörer zuschreibt) eigen – damit richtet sich diese normative Ästhetik gegen jegliche Form von nicht abso-luter, im weitesten Sinne funktionaler Musik, die ihre Funktion und damit ihre Gebrauchbarkeit ob ihrer emotionalen Qualität hat; eine Gebrauchbarkeit, die ra-tional kontrollierter Musik verwehrt bleibt. Was möglicherweise der Erfahrung des Gebrauchs von Musik im Dritten Reich entsprang, lässt sich auf die Intention der