2.6 Stufen der Unmittelbarkeit des Musizierens im Pop 277 Idioms im Rock’n’Roll und der R&B-Szene – Soul eine eigenständige parallele schwarze Musik, die später im jazznahen Funk und heute im soundmäßig zu Techno überhängenden Hip-Hop die Weiterentwicklung ihrer Inhalte wie der motorisch erregenden musikalischen Parameter fand und findet. Ihr gemeinsamer Vater ist Little Richard. Er lebt altruistisch missionarisches Predigertum und zugleich ich-bezogenen Hedonismus, Verinnerlichung gepaart mit exaltierter Motorik: beides resultiert in Excitement – das Paradigma des Soul, das Weiße stets fasziniert, sie anregt aber – bei allen Versuchen einer Symbiose – stets als schwarze Musik eigenständig bleibt. Der die erste Hälfte der sechziger Jahre dominierende Mersey-Beat aus Liverpool ging aus der Synthese der rhythmischen und klanglichen Parameter des amerika-nischen Rock’n’Roll und der liedhaften Anlage der aus der volkstümlichen Musik in der Nähe der einfachen, gesangsorientierten irisch Folk-Music bzw. ihr nahen Formen, entstandenen Skiffle-Musik hervor. Skiffle war aber zugleich mehr. »Der Skiffle war eine englische Form eines bestimmten Typus der amerikanischen Folk- Musik, die sich bestens in die Music-Hall-Tradition einfügte, wovon Songs wie ›Does Your Chewing Gum Lose Its Flavor on the Bedpost Overnight?‹ aufs trefflichste zeugen« (SHAW 1983, S. 14). Zur Verbreitung des Beat innerhalb und vor allem außerhalb von Liverpool trugen wesentlich zwei Faktoren bei, die die erfolgreiche Distribution neuer Güter bestimmt. Zuerst die das Gruppenbewusstsein – somit den inneren Zusammenhalt und die Konzentration der Kraft nach außen – etablierende Zeitschrift Mersey-Beat, gegründet von 1961 von Bill Harry, die der neuen Musik schließlich den Namen gab; und die reichhaltige und funktionierende Clubszene, die Auftritte und somit das Bekanntmachen von Gruppen in unmediatisierter Rezeption ermöglichte. Der Club in dem diese weltzugewandte Musik live gespielt wurde, war aber auch der Ort des Treffens, der Kommunikation des Ich mit dem Du beim Tanz. Mit dieser Funktion geht schließlich eine von jeglicher belehrender Ideologie freie Haltung des Musikmachens einher. Auch das Musikverkaufen wird ein Wert der Jugendlichen, verkörpert in der Person des Managers der Beatles Brian Epstein; er gehört als Freund zum Funktionsgefüge der Gruppe, er ist nicht ausbeutender Außenseiter, Vertreter der Majors, wie dies die authentische Szene einschätzt. Mit ihm nimmt erstmals in der Geschichte der Pop-Musik die Generation der Musiker ihre ästhetischen und wirtschaftlichen Geschicke selbst in die Hand; Selbstgestaltung ist dann auch jenes dominante Merkmal, das Pop-Culture bestimmt und als parallele Produktions- und Distributionsform von Musik erscheint; die Herrschaft der Majors wird zumindest kurzfristig irritiert, bis diese wiederum jenes Verhalten assimilieren und im großen Stile verkaufen. Was im Tausch von Musik-Kassetten im Rap, was im Techno die explizit ineinander verwobene, net-basierte Produktions- wie zugleich Distributionsform als selbstbestimmtes (kollektives) Musikleben erstarkt, ist eine Erfindung der sechziger Jahre und nicht der früheren Jahre. Dies ist die erste gezielte Wendung gegen jenen Pop, in dem professionelle Komponisten, Musiker und Manager der Elterngeneration für jugendliche Proponenten arbeiteten, die von ihnen bestimmte, gezielt kreierte Idole der Jugendkultur waren. Die Ideologie der Horizontalisierung der Netzkultur und der Clubszene der neunziger Jahre findet ihre Avantgarde in der selbstorganisierten Clubszene des Mersey-Beat.