2.6 Stufen der Unmittelbarkeit des Musizierens im Pop 293 (I’m only sleeping, And your bird can sing . . . ) filtert Martin die Stimme Lennons nicht gemäß der Tradition, um sie natürlich abbilden zu können. Er überhöht den näselnden Charakter und schafft damit Künstlichkeit (A day in the life), wobei er sich nicht scheut, unterschiedliche Filterungen ein- und derselben Stimme hart aneinander zu schneiden. Eine weitere Form der Künstlichkeit schafft Martin durch die klangliche und räum-liche Gestaltung der Gitarren. Anstelle einer möglichst breit klingenden Gitarre (das dominante ästhetische Klangbild der Zeit) wird diese ebenfalls zu einem künstlichen Klang gefiltert,34 im harten Schnitt gereiht, durch Zuspielung horizontal überlagert und in unterschiedlichen Räumen aufgenommen, mit unterschiedlicher Raumakustik versehen, somit in unterschiedliche Klangräume gesetzt. Raum wird dadurch zu einer willkürlich beherrschbaren musikalischen Größe abseits der akustisch vorgege-benen Situation des konstanten Aufführungsraums. Die eine einfache Simulation von Raumpositionierung durch Stereophonie für die Links-Rechts-Positionierung, die Vorverzögerung für die Raumtiefe wie die Halldichte als Indikator der Raumbe-schaffenheit werden dabei als physikalische Medien künstlich variiert. Bereits auf dem analogen Niveau wird – zwar technisch und ökonomisch aufwendig – Raum zu einer vom Aufführungsrahmen entkoppelten musikalischen Größe.35 Es ist der Transfer E-musikalischen Denkens, der das Studio als (kompositorisches) Instrument im Pop etabliert. Neben eigenen Kompositionen für die Beatles auf der LP Yellow Submarine sowie seine den Gitarre-Sound der Beatles36 erweiternden Arrangements (meist lyrischer Lieder) mit kleinen Streicher- und Bläser-Einheiten (z. B. Yesterday, Michel, Eleanor Rigby), denen der Charakter barocker Ensembles anhörbar ist, schafft MARTIN nicht nur die ideologische, sondern unmittelbare kompositorische Zusammenführung der Pop-Musik und der E-Avantgarde.37 Aus der technischen Speicherung von Klang und dessen Bearbeitung resultiert die vom Musizieren und damit vom Musiker unabhängige kompositorische Arbeit am Klang – die Weiterführung, die WEBER (1921) mit dem Aufkommen der Notation als kompositorische Arbeit am Code für 34 Durch die MRB-Schaltung der Vox-Verstärker der späten 60er Jahre nachgezeichnet; fixe extrem filternde Stellungen des Wah-Wah-Pedals konnten damit abgerufen werden und ergaben als statischen Effekt ungewohnte Gitarrenklänge gerade im Gegensatz zu den pompösen Klängen des Heavy-Rock jener Tage. 35 Die Koppelung von Aufführungsrahmen mit Musik als gesamt-ästhetisches Konzept geschah im Barock, wo das rasende polyphone Klanggespinst im überhalligen Raum der Kirche nicht das Verfolgen der einzelnen Stimmen ermöglichte, sondern das Aufnehmen einer gleichsam stationären Klangmasse, dem Erzeugen einer kontemplativen Stimmung entsprechend. Narra-tive ästhetische Konzepte der Klassik verlangen hingegen das Verfolgen der musikalischen Teile und ihrer fortspinnenden Durchführung im großen Klangkörper, in Sälen mit modera-ten, neutralen Hallzeiten; die Hallzeiten des bürgerlichen Konzertsaals zwischen 1,7 und 2,1 Sekunden erlauben dieses Hören. 36 Die Gitarrebesetzung und damit der Kaugummi-Sound (vgl. MARTIN 1997, S. 11) der frühen Beatles ist aus der Übernahme der Instrumentarisierung des amerikanischen Rock’n’Rolls in Symbiose mit dem über den amateuristischen Skiffle (der Stil der Beatles davor) transportierten Irish Folk hervorgegangen. 37 A day in the life ist auch durch die zweimalige Überblendung des normalen Beatles-Sounds mit einem Orchesterklang eines großen Orchesters mit viel Blech charakterisiert, der – über einen Zeitraum hinweg – von einem zentralen Ton aus einem über mehrere Oktaven verteilten E-Dur-Akkord zustrebt.