7.1 Unmittelbar körperliche Wahrnehmung 385 Relationen her zu stellen ist Basis vieler Wahrnehmungsprozesse, für die Klang-wahrnehmung ist dies im synchron Auswählenden (durch simultane Maskierung) wie im diachron Reihenden (durch sukzessive Maskierung) essentiell. Musik organisiert sich nach solchen Wahrnehmungsprozessen und bietet damit Imageries von Zeit, Raum und einem systemischen Gefüge, letztlich einem bezüglich des eigenen körperli-chen Verhaltens passiv analysierend erlebten und damit erfahrenen mechanistischen Prinzip. Musik überschreitet dieses Prinzip gleichermaßen, indem es objektiviert – das Reihende der Klangwahrnehmung, das Beziehende der Analyse des akustischen Raumes gehen ein in ein willkürliches System von Codes. Als dieses willkürliche System von Codes wie als körperliches Ereignis ist Musik als hedonisch geregelt zu begreifen. Die Gestaltung der Codes in Zeit und Raum ist mit Aktivierung verbunden, der Klang und seine stete Umhüllung des Rezipienten wirken immersiv. Ist in der grundlegenden Wahrnehmungsforschung der Wahrnehmungsapparat als Instrument des Zugangs zur Wirklichkeit ein Forschungsgegenstand, so inter-essiert erweiterte Wahrnehmungsforschung die Repräsentation von Wirklichkeit durch Medien von den analog gestischen über die codiert sprachlichen bis hin zu den (wiederum) analogen und digital codierten technischen Medien als Konstrukti-onsmethoden der Wirklichkeiten. »Während Bilder immer auf etwas Vergangenes zeigen und nur eine immer schwächere Kopie des Originals geben können, weist Schrift als lebendige Emanation eines Geistes in die Zukunft. Was den visuellen Medien an Leben und Wahrheit abgeht, das bleibt in der Schrift erhalten, die keine ›abgeschwächte‹ Reproduktion vermittelt, sondern selbst zum ›Instrument der Reproduktion‹ wird – ausgestattet mit jener ›wunderbaren‹ Fähigkeit, nicht nur Altes zu bewahren, sondern zugleich Neues hervorzubringen«, fasst STEINER (1999, S. 20) die Aussagen von Aleida ASSMANN zusammen. Die Autorin betont hier den aktiv wirklichkeitsgenerierenden Aspekt des Mediums Schrift im Gegensatz zum ikonischen Medium Bild. Musikalische sind als selbstreferentielle Zeichen wie die der Schrift zu werten, selbst das ikonische akustische Zeichen ist in Bezug auf die Freiheitsgrade der Wirklichkeitswiedergabe nicht dem visuellen Bild gleichzustellen. Schrift ist die Formalisierung eines Denksystems. Einerseits aus der Erfahrung der Wirklichkeit durch Abstraktion entstanden (HEIDER 1921) dient es nicht nur der Beschreibung der Wirklichkeit, sondern leitet den Blick auf die Wirklichkeit, ist wirklichkeitsbeschreibend und wirklichkeitsschaffend zugleich. Mit der Fähigkeit zum zeichenhaften Umgang mit Wirklichkeit ist Schrift Ausdruck einer kulturellen Leistung (CASSIRER 1964), abgegrenzt von natürlichen abbildhaften Repräsenta-tionen von Wirklichkeit. Dass wir Wahrnehmungen über ihre systemimmanenten abstrahierenden Fähigkeiten (HOLZKAMP 2000) hinaus in Zeichen formulieren und diese dann als Medien/Vermittler des Verständnisses der Wirklichkeit fungieren, bezeichnen wir als Kultur – ein Verständnis, das die Zusammenführung der Phi-losophie der symbolischen Formen CASSIRERs mit der bereits von ihm durch die Funktion der Vermittlung der Zeichen angedeuteten Medienphilosophie leistet.