8.1 Dynamisierung und Virtualisierung des künstlichen Bildes 391 Wirklichkeit wird durch diese technischen Veränderungen neu heraus gebildet, in der Art, wie sich einst die Erfahrung der Wirklichkeit, an den Möglichkeiten des Körpers orientiert, herausbildete. »Mobilität und Beschleunigung der Zirkulation ist keine Frage mehr der Bewegung eines Körpers von einem Ort zum anderen, also der Durchquerung des Raums und der Vernichtung der Dauer, sondern die Wahrnehmung ist selbst zum ›Schlachtfeld‹ (Virilio) geworden« (RÖTZER 1991, S. 33). 8.1 Technische Dynamisierung und Virtualisierung des künstlichen Bildes Die Bildende Kunst hat diese Wirklichkeitsveränderung am meisten thematisiert. Die plastische Kunst spielt mit dem Objekt, die ans Wort und an die Vorstellungs-welt der Begriffe gebundene Literatur mit der Provokation von Erfahrungswissen mittels Zeichen. Die Bildende Kunst ist analoge Simulation, sie entwirft Bilder zwischen Außen- und Vorstellungswelt zur Evokation von Wirklichkeit als visuelle Kunstform. Sie ist selbst eine an das »Bild« gebundene Mediatisierung der Wirklich-keit; als Formalisierung der Möglichkeiten des visuellen Sinnessystems beschränken sich die traditionellen Medien der bildenden Kunst auf das statische Bild. Die neuen technischen Medien haben die Mediatisierungsformen der Bildenden Künste am meisten irritiert. Die technischen Innovationen haben Wirklichkeit und damit die Wahrnehmung aus der visuell kontrollierten Körper-Umwelt-Interaktion am meisten verändert. Das Verhältnis zwischen eigener Körperbewegung und Bewegung der Ge-genstände wurde durch die technischen Innovationen verändert: durch die Erhöhung der Geschwindigkeit wird die eigene Bewegung durch die Bewegung der Gegenstän-de ersetzt; Zeit und Raumwahrnehmung, letztlich nur durch die eigene Bewegung dem visuellen System zugängig werden seine Wahrnehmungsgrößen. Digitale Codes erzeugen virtuelle Wirklichkeiten, die dem analogen Abbild-Mechanismus des visu-ellen Systems nicht zugängig sind. Sind Künste zu aller erst die Formalisierung des Wahrnehmungsprozesses ihrer Sensorien, so ist die Zuwendung der Bildenden Kunst zu diesen neuen Seinsformen die Thematisierung der Erweiterung und Mediatisie-rung der Wahrnehmung der »Bilder« der Wirklichkeit – nun einer Wirklichkeit, die durch technische Innovationen vorrangig ihre »Bilder« aus der visuell kontrollierten Wahrnehmung verändert haben. Die Bildende Kunst des 20. Jahrhunderts macht die Mediatisierung ihres (Wahrnehmungs-) Mediums selbst zum Inhalt. Sie stellt nicht nur – wie das futuristische Bild – Bewegung indexikalisch dar, sie bewegt das Bild selbst, sie bildet nicht nur die Wahrnehmungsprozesse »mitbetrachtend« die Wirklichkeit analog ab, sie konstruiert Wirklichkeit durch Gestaltung von Codes. Sie versucht allgemein das Bild als los gelöst vom eigenen aktiv erkundenden Körper, letztlich von der Subjekt-Objekt-Relation als Immaterialien zu begreifen und auch die Darstellung des Nicht-Darstellbaren. Die Musik war stets von der Dingwelt frei und wertet deswegen, diese für sie außenliegenden Änderungen nicht als ihren Gegenstand. Zeit und Struktur sind ihre primären Determinanten, willkürlich geschaffene Wirklichkeit ihr Gegenstand. Die Wahrnehmung der Wahrnehmung ist ihr Inhalt, die Formalisierung der Wahrneh-