8.1 Dynamisierung und Virtualisierung des künstlichen Bildes 393 20. Jahrhundert diese Fesseln abstreifen wollte und sich musikalisierte. Dieser Logik folgend, ist es nicht schlüssig, dass Theorien sich jenen Erscheinungsformen anpassen, die nach ihrem Entstehen aufgetaucht sind; im streng wissenschaftlichen Sinn weist dieses Verhalten die Theorie als falsch aus, da sie »unser Wissen und unser Ver-ständnis auch dadurch erweitern [muss], daß sie Phänomene vorhersagt und erklärt, die noch nicht bekannt waren, als die Theorie formuliert wurde« (HEMPEL 1974, S. 109). Sie ist durch eine Alternativtheorie zu ersetzen: durch jene Theorie, die eine systemisch-interaktiv geregelte dynamische Zeitform beschreibt und erklärt (wie die immaterielle Musik eine ist). RÖTZER wertet den Einsatz digitaler Technologie in der Kunst als eine Weiterentwicklung der Simulation der Realität, er wertet den Computer als perfektes Instrument in der Kontinuität der Illusionstechnologie. Dies ist Ingenieurskunst oder Kunsthandwerk. Der Autor erkennt die Dominanz der Zeitstruktur gegenüber der Dominanz des Räumlichen, als neues, bestimmendes Kriterium der Neuen Kunst. Abseits der Übertragung der Zeitstrukturierung auf das Bild sieht er nicht die Möglichkeit, Musik als Modell zur Strukturierung von Willkürlichkeit in den digitalen Künsten zu betrachten. »Neu sind gegenüber der Malerei, der Fotografie oder dem Film zunächst die technischen Möglichkeiten der Interaktion, der Steuerung von Objekten im virtuellen Raum, der Verkoppelung verschiedener Bildsorten und der exakteren Verbindung von Bild und Musik, in der die visuelle Wahrnehmung rhythmisiert und so die Bilder von ihrer Bindung an Geschichten oder an die Ähnlichkeit zwischen Dargestelltem und Darstellendem abgelöst werden. Diese Musikalisierung der bewegten Bilder, die im experimentellen Film und im Trickfilm bereits einsetzte, aber auch in den Kompositionen der ab-strakten Kunst schon zur Geltung kam, erfährt mit den computergesteuerten und -generierten Bildern eine neue Dimension, in der nicht mehr der Raum, sondern die Zeit, nicht mehr die Dar- und Vorstellung, sondern die sequentielle und variationelle Dramaturgie von ikonischen Elementen einer transfigurativen Bildersprache maßgeb-lich sind. Die Filme Alexander KLUGES für das Fernsehen arbeiten exemplarisch an dieser Verbindung. Die Verbildlichung der Musik und die Musikalisierung der Bilder in den audiovisuellen Medien, aber auch die wechselseitige Umsetzung der übrigen sensorischen Daten in andere auf der Grundlage der Komposition, die nicht umsonst durch ihre Ähnlichkeit mit der Kalkulation zuerst von den Musikern aufgegriffen wurde, ist wohl eine der Grundlagen der digitalen Ästhetik, durch die sie sich von der herkömmlichen unterscheidet« (RÖTZER 1991, S. 13). Kunst als Prozesshaftes, als Zeitgestalt, ist ein Zentrum der Neuen Künste, Musik ist hier theoretisches Vorbild. Diese Musikalisierung der Bilder geschieht in den Videoclips, aber nicht nur hier regelt eine Logik abseits des Physikalischen und abseits des Narrativen die Zeitgestalt, sondern die Logik der Musik, die dem Gesetz des hedonischen Zusammenspiels von Spannung und Lösung mit den Mitteln der Gliederung im Horizontalen wie im Vertikalen folgt; Gesetze, die sich nicht auf die Reihung von Inhalten oder Zeichen, sondern bloß auf das Prinzip der Reihung beziehen, also völlig von den Subjekt-Objekt-Beziehungen frei sind, die den Dingen in unserer Sicht eigen sind. Hier liegt ein weiteres Zentrum Neuer Künste, für das Musik eine Urform darstellt, denn dieses beziehende Denken vollzieht sich nicht nach den Gesetzen der Dinge oder Repräsentanten der Dinge in uns, es ist nicht durch das physikalisch Mögliche oder durch das psychologisch Fassbare eingeschränkt,