398 Bedingungen der Irritation und Transgression des mechanischen Systems 8.2.1.1 Musik als Formalisierung der Wahrnehmung wie Konstruktion von Zeit Musik ist nicht eine Gestalt in der Zeit, Musik ist Gestaltung der Zeit. Das meint, dass Wahrnehmungsprozesse formalisiert werden, die letztlich uns Zeit vermitteln. »Es stellt sich fast automatisch eine horizontale Ordnung ein bei der Vorstellung eines sich bewegenden Tons. Tonwiederholungen bilden eine horizontale Anschau-ung besonders einsichtig aus. Dies mag mit der Genese des kategorialen Systems zusammenhängen, nämlich damit, dass sich die Erfahrung von Vorher und Nachher aus dem Erlebnis einer nicht identischen räumlichen Anordnung entwickelt (Piaget)« (de la MOTTE-HABER 1990, S. 45–46). Formale Strukturen sind psychologische Gliederungen, die als logische Verknüp-fungen, als Beziehungen in der Zeit wahrgenommen werden. Sie transportieren Bedeutungen (durch Beziehungen) und vermitteln zugleich den zeitlichen Fluss. Die sprachnahe Betrachtung findet sich in den Untersuchungen zur Segmentierung; grammatikalische Strukturen werden als logische Folgen mit zeitlichem Ablauf verbunden. Untersuchungen zur Strukturierung von Musik gehen zwar von Sprach-modellen aus, die experimentelle Forschung verfolgt die kritische Prüfung jener im Umfeld der absoluten Musik postulierten Gemeinsamkeiten. CHOMSKYs (1957, 1965, 1968) generative Grammatik basiert darauf, dass »at a deep level, all natural languages have the same structure, and this structure tells us something universal about the human intellect« (SLOBODA 1985, S. 12). H. SCHENKERs (1935) wertende analytische Betrachtung von Musik führt zu dem Schluss, dass »at a deep level, all good musical compositions have the same type of structure, and that this structure reveals to us something about the nature of musical intuition« (SLOBODA 1985, S. 12). Die Tiefe und Allgemeingültigkeit jener Gemeinsamkeit in Sprache und Musik lässt vermuten, dass es sich um allgemeine menschliche Äußerungen handelt, denen Denken zugrunde liegt. Die Analyse beider, auch der Musik, legt Denken frei. Denken, in dem Beziehungen auch als zeitliche Folgen zu betrachten sind. »The same relationship to a musical sequence as a thought bears to a linguistic sequence« (SLOBODA 1985, S. 20) ist in der treibenden Kraft von Spannung – Lösung zu vermuten. Im SCHENKER’schen (1935) Ursatz sei dieses Verhältnis (für die abendländische Musik) optimal verwirklicht. Vom Dreiklang der Grundstufe, dem »ultimate resting place in music« (SLOBODA 1985, S. 21) ausgehend drängt es nach motivierter Irritation wieder zu diesem zurück. Diese »creation and resolution of motivated tension« (ebenda, S. 22) sei die zutiefst liegende musikalische Universalität, vergleichbar dem Gedanken in der Sprache. In Anlehnung an SLOBODA (1985) wird die psychologische Relevanz des hierar-chischen Modells von Phonetik, Syntax und Semantik an Parallelen in der Wahr-nehmung von Wortsprache und Musik geprüft. Phoneme gelten als kleinste Klangteile der Sprache; sie werden in relationaler Abgrenzung kategorial wahrgenommen, ebenso wie Tonhöhen und Tondauern. Als die Wahrnehmung von Zeitphänomenen ist die Wahrnehmung eine beziehende. Einschwingvorgänge werden erst nach dem Hören des folgenden stationären An-teils »bedeutsam« für die kategoriale Erkennung von Phonemen (MATTINGLEY,