8.2 Zeit – Raum – Gefüge: ein Produkt körperlicher Erfahrung 401 das dynamisch Informelle des zeitlichen Formspiels in non-narrativen Videos sieht hier seine theoretischen Wurzeln. Der Primat des Parameters Form verweist auf die Dominanz der Zeitgestalt von Musik, die wie die diachrone kompositorische Gestalt Ausdruck und Hervorbringung eines Bezug-Denkens ist. Nam June Paik begründet in der beiden Medien gemeinsamen willkürlichen Gestaltung des Parameters Zeit seinen Zugang als Komponist zur Video-Kunst und grenzt sie von narrativen For-men ab, deren Zeitgestaltung durch die Logik des Handlungsablaufes vorgegeben ist. Obwohl zuvor bereits gewusst und realisiert, hat dieser bewusste Transfer des Grundprinzips der Gestaltung von Zeit mit Nicht-Dinghaftem aus der Musik auf die Videokunst von Nam June Paik diese Haltung zu einer Grundhaltung der Neuen Künste allgemein gemacht, jener Künste, die sich vom Abbilden des Statischen befreiten und über die Erfahrung der Maschine bis zur Erfahrung neuer Kom-munikationstechnologien das fassbar Machen des Dynamischen erstrebten. Diese Haltung findet unmittelbare Vorfahren in Walther Ruttmann, Hans Richter, Viking Eggeling sowie Fischingers abstraktem Film. Aus der »Konstruktion einer Augenmu-sik « (HERBST 1993) mit den technischen Mitteln entsprang die »Augenmusik des Films« und der »absolute grafische Film« (MANK 1993), Bezeichnungen für diese Experimente von Malern mit der Zeitgestaltung von Bildern. Diese Zeitgestaltung fand bewusst am Beispiel der Musik statt und fand in der Mathematik und den technoiden Künsten seine Fortführung, argumentiert Malcolm le GRICE (1995) in seinem Beitrag zur Dokumentation zum abstrakten Film aus. Abstraktion ist nicht nur die Befreiung der Form von Inhalt, sondern auch der Dekonstruktion von Struktur. »Für mich liegt das Wesen der Abstraktion vor allem in der Frage, wie man mit Zeit umgeht. Da das Abstrakte Kino fast gleichzeitig mit der Abstrakten Malerei aufkam, nahm man zunächst an, daß Ideen aus der Malerei einfach auf die Leinwand gebracht werden sollten. Ich halte das für eine leichte Fehleinschätzung dessen, was das Konzept der Abstraktion im Medium Film bewirken kann. Jemand wie Leger (Ballet Mecanique, 1924) z. B. hatte keine Probleme damit, Bilder aus der realen Welt zu verwenden. Das Abstrahieren bestand einfach darin, in welcher Anordnung die Bilder aufeinander folgten. Jedenfalls bin ich davon überzeugt, daß sich die Definition des Abstrakten im Filmischen, die Definition des Abstrakten Kinos nicht notwendigerweise allein aus dem Nichtgegenständlichen eines Bildes ergibt. Die Entwicklung der Abstraktion in den Bildenden Künsten beruhte zum Großteil auf der Ablehnung der konventionellen Perspektive als einziger Möglichkeit zur Darstellung der Welt. Und das Äquivalent dazu ist im Abstrakten Kino die Ablehnung aller narrativen Strukturen zur Darstellung der Welt« (le GRICE, 19951). »Die bildenden Künstler mußten eine neue Logik finden und auf die alte Logik der Perspektive verzichten um ihre Bilder malen zu können. Und auch wir Abstrakten Film- oder Videokünstler müssen uns nach einer anderen Form der Logik umsehen. Zur Darstellung der Zeit, unserer visuellen Einfälle, Bilder und deren Abfolge. Das Modell, an dem wir uns dabei offenbar am besten orientieren können, ist jenes der Musik. Dennoch will man ja nicht ewig aus einer anderen Kunstform schöpfen. Wir suchen eher nach Modellen die unserer eigenen Kunstform adäquater sind und 1 Malcolm le GRICE, Kommentator der Fernseh-Dokumentation Abstrakter Film (Kunststücke ORF 2, 24. Oktober 1995)