8.2 Zeit – Raum – Gefüge: ein Produkt körperlicher Erfahrung 405 Unsere Augen sind nach vorne gerichtet und nehmen einen Ausschnitt der Umwelt als Gesichtsfeld auf. Licht ist das Medium der visuellen Information. Als Transversal- Wellen werden Lichtwellen von Gegenständen abgehalten, an unser Auge zu dringen. Das heißt, wir sehen nicht hindurch, wir müssen diese Gegenstände umgehen, um dahinter zu sehen. Die Bewegung des eigenen Körpers erstellt uns eine Serie von zweidimensionalen, vor uns liegenden Gesichtsfeldern; wir durchschreiten Bilder des Raums, aus denen wir den Raum konstruieren. Invarianten werden als räumlich bedingt, Varianten als zeitlich bedingt interpretiert – daraus werden die Denkkategorien Zeit und Raum gebildet – diese entstehen aus eigener Wahrnehmungstätigkeit (GIBSON 1982). Zeit und Raum sind untrennbar in der Wahrnehmung verbunden. Der erfahrene Raum ist durchschritten und liegt hinter uns, er ist mit vergangener Zeit assoziiert. Unter Berücksichtigung der eigenen Wahrnehmungstätigkeit extrahieren wir aus dieser Erfahrung das mechanistische System. Die Erfahrung des phylogenetisch älteren auditorischen Raums ist anders. Unab-hängig von eigener Bewegung wird der auditorische Raum durch Bewegung in ihm vermittelt – durch Auswertung der »Informationsübertragung«. Klang trägt nicht nur die Information über seinen schwingenden Hervorbringer in sich, sondern auch Informationen über die Bedingungen der Schallausbreitung in spezifischen Räumen. Durch die Dämpfung und Absorption informiert uns Klang über qualitative und quantitative Aspekte des Raums und unsere Position in ihm (JAUK 2000a), über den uns selbst bestimmenden Bezug zu ihm (körperliche Identität) – als von uns entfernte Klänge werden leise, dumpfe wahrgenommen, als nahe bei uns laute, helle Klänge. Die Generalisierung dieser Erfahrung läßt uns dann als sekundäre Interpretation allein die Klangfarbe als Raumwahrnehmung deuten. Das Zusammenspiel zwischen der relativ langsamen Ausbreitungsgeschwindig-keit des Schalls und unserem hoch auflösenden auditorischen Zeitdetektor lässt uns Veränderungen des sich um uns bewegenden Schalls als Klangmodulation er-kennen – aus der Erfahrung dieses Verhaltens deduzieren wir Raum: seine Größe grundsätzlich aus dem Zeitraum der first reflections, seine Gestaltung aus den Berechnungen, d. h. an der Länge des Halls und seiner Farbe. Als Sekundärinterpre-tation deuten wir Klangfarbe und Lautstärke als Distanz und Richtungsmaß, als akustische Perspektive. Grundsätzlich ist der auditorische Raum »egozentrisch«3 und ein all-at-onceness-space, er ist wahrnehmungsmäßig stets um uns und uns ohne eigene Bewegung zugängig. Obwohl ältere Experimente, in denen Ratten »Wissen« von Distanz ohne entsprechende voran gegangene Erfahrung hatten, den Raum als nativistisch (zumindest mitbestimmt) ausweisen (LASHLEY & RUSSEL 1934), ist heute Raumwahrnehmung als erlernte Analyse von Veränderungen im mechanistischen Gefüge anzunehmen. Die Provokation von Veränderungen bzw. die Analyse vorhandener Unterschiedlichkeit kennzeichnet den Unterschied zwischen visueller und auditiv kontrollierter Körper-Umwelt-Interaktion als Basis entsprechen-der Imageries über den visuellen bzw. auditiven Raum. Imageries sind schließlich als internalisierte Erfahrungen auch ohne entsprechende Bewegung abrufbar, allein 3 Die leichte Gerichtetheit der Ohren hindert uns nicht, einen stets um uns befindlichen Hörraum wahrzunehmen und zwar bevor Bewegungen im Raum-Zeit-Gefüge die kognitive Erschließung von Raum erlauben.