8.2 Zeit – Raum – Gefüge: ein Produkt körperlicher Erfahrung 411 die Entfernung der Klangquelle. Die Ergebnisse legen die Sekundärinterpretation des Klanges als Distanzmaß sowie eine synästhetische Zuordnung von hoch und tief hinsichtlich der Tonhöhenempfindung und der räumlichen Position nahe – insgesamt eine Raumempfindung aufgrund des Wissens um die Erfahrung der Modulation von Klang durch räumliche Gegebenheiten. Die akustische Perspektive ist die Auswertung von Erfahrungswissen über das Verhalten von Klängen im Raum. Dämpfung der Wellen in der Luft bedingt Amplitudensenkung. Vorrangig betrifft dies die amplitudenschwächeren oberen Teiltöne. Entferntere Klänge sind somit leiser und dumpfer. Entsprechende Klänge werden mit entsprechender Raumwahrnehmung assoziiert, wobei individuelle Prägung durch visuelles Verhalten die Wahrnehmung überformen kann. Die in der Renaissance eingeführte Perspektive ist mehr als die Simulation, das Nachzeichnen des Netzhautbildes. Sie ist die Nutzung von Erfahrungswissen und ein Schritt zur Partizipation: Eine Sicht wird zu einem bestimmten Zustand des dynamischen Wirkungsgefüges von Zeit und Raum eingefroren und gibt somit die Position des Betrachters wieder, involviert ihn ins das Bild und macht ihn bewusst und zwingend zu einem Teil des Bildes. »Invarianten enthüllen eine Welt ohne jemanden in ihr, während Perspektive errät, wo sich der Betrachter in dieser Welt aufhält« (GIBSON 1982, S. 305). Die akustische Perspektive leistet eine ähnliche Positionierung der Hörers und macht ihn zum Partizipienten. Die Assoziation von Klängen unterschiedlicher Höhe, Farbe und Lautstärke mit unterschiedlichen Raumpositionen (JAUK 2000a) wird in movement interfaces ge-nutzt. Der durch Bewegung im Raum erzeugte Klang suggeriert akustisch und psychologisch die Position im Raum entsprechend der Bewegung, Durch die Koppe-lung von Bewegung und entsprechendem Raumklang positioniert der Klang den Partizipienten im Raum und involviert ihn passiv wie aktiv, Solche Interfaces stellen ein Immersions-Feedback dar. Space Illusion (JAUK 2000a), ein Projekt des Autors im Steirischen Herbst 1996, fokussiert diese Bewegungs-Wahrnehmungskoppelung auf die auditive Kontrolle und schaltet die (durch Vorprägung dominante und somit störende) visuelle Raumkontrolle durch Finsternis wie die Rückmeldung der Position im Körper durch Irritation des Gleichgewichtsempfindens durch leicht schiefe Lage weitgehend aus. 8.2.2.4 Der musikalische Raum als Objektivation des physikalischen Raums In allen Theorien ist Raum eine an die Körper-Umwelt-Interaktion gebundene Wahrnehmungsgröße. Der musikalische Raum löst sich durch die Mediatisierung zunehmend von der Generalisierung der Körpererfahrung und wird zu einer nur mehr denkbaren Größe. Die Musik hat die Abstraktion eines physikalischen zu einem virtuellen Raum geleistet; seine Imagination und begriffliche Veranschaulichung wird mit dem unsere Erfahrung prägenden physikalischen Raum assoziiert wie dies frühe und neue Notationsformen von Musik nutzen. Dieser virtuelle musikalische Raum ist jene Neuschöpfung, die auf der Basis des Klang-Raums die in Zeichen realisierte Mediatisierung des Wissens über das Verhalten von Klängen im Raum ist.