412 Bedingungen der Irritation und Transgression des mechanischen Systems Musikkulturen, die aus dem Klang nicht künstlich das Abstraktum Tonhöhe extrahieren und mit dem multidimensionalen Begriff Klang operieren, kennen auch nicht den künstlichen Tonraum. Aber auch uns sind diese bekannt und sie werden in der neueren Musik zunehmend kompositorisch genutzt. Denn neben der virtuellen musikalischen Tonhöhe sind es klangliche Eigenschaften, die einen hohen Ton von einem tiefen unterscheiden. Die STEVENS’schen Dimensionen Dichte und Volumen zeugen davon. Dementsprechend assoziieren wir mit den entsprechenden Klangeigenschaften auch die Positionen auf der vertikalen Dimension. Abseits der physikalisch eindeutig definierten Ortung auf der Links-Rechts-Ebene sind die Ortungen auf den beiden anderen Dimensionen als synästhetische Erlebnisse und Sekundärinterpretationen vage. Es scheint so zu sein, dass die physikalische Repräsentativität den Freiraum der virtuellen beschneidet – dies mag ein Hinweis darauf sein, dass die abbildenden Künste letztlich die Referenz der physikalischen Welt vor Augen haben und deswegen eine Welt der Simulation darstellen, hingegen die von der Subjekt-Objekt-Beziehung leichter lösbare Musik eine Welt der Illusionen ermöglicht – eine Wahrnehmungsart, die der entdinglichten, mediatisierten Welt besser entspricht. Schriftsprache war am Abbild orientiert, im Prozess der Mediatisierung hat sich Schrift zu einem grammatikalisch geregelten System von Symbolen entwickelt, in dem das ikonische Zeichen die Ausnahme darstellt. Die musikalische Schrift hat sich ebenfalls in ihrer Entwicklung vom Abbild zu einem System einiger weniger Zeichen entwickelt, die in der Verschränkung zwei-er Dimensionen Bedeutung ausdrücken. Verglichen mit der Wortsprache ist die musikalische Schrift wenig mediatisiert. Aus dem gestischen Wink, den Neumen entwickelt, sind Dauer und Höhe ikonische Zeichen. Lautstärken sind vage durch sprachliche Begriffe notiert; in grafischen Notationen wie Analysebildern gibt der Schwärzungsgrad als visuelles Icon Intensität in Analogie zur akustischen Präsenz an; Intensität kann dabei auch als Hinweis auf die räumliche Entfernung der Klang-quelle gelesen werden. Die Leserichtung von links nach rechts ist die Übertragung eines Grundprinzips der abendländischen Schrift auf Notation. »Es stellt sich fast automatisch eine horizontale Ordnung ein bei der Vorstellung eines sich bewegenden Tons« (de la MOTTE HABER 1990, S. 45). Damit geht das Element Zeit, als Beipro-dukt der Genese des kategorialen Systems aus dem Erleben einer nicht identischen (räumlichen) Anordnung, implizit in das Vorher und Nachher der Schriftzeichen ein (de la MOTTE HABER 1990) und wird, abgesehen von Wiederholungen, in der Grammatik, den abstrakt logischen Bezügen, nur annäherungsweise gelöst. Schließlich steht in der Entwicklung der musikalischen Schrift wie in der Ent-wicklung musikalischer Rezeption eine Melodiekontur an zentraler Stelle – grafische Notationen rekurrieren heute wiederum stärker auf diese ikonischen Qualitäten – Gerhard Rühm hat in seiner grenzüberschreitenden Arbeit diese basalen Synäs-thesien zwischen sprachlichem Verständnis und musikalischer Schrift exploriert. Die Erfahrungen des physikalischen Raums gehen in die Notation ein und in die Art und Weise der verbalen Bezeichnung (SCHNEIDER 1995, S. 144). Gerade in diese Melodiekontur gehen die räumlichen Vorstellungen von oben und unten ein, gehen die zeitlichen Abläufe und letztlich die Beziehungen von Größen zueinan-der (im diachronen wie synchronen Sinne) ein. Die Beziehung von Tonsystemen