8.3 Digitalisierung und Musik 431 Dass die Freiheit zum Mitbestimmen von außen nicht mit der Fähigkeit und dem Willen dieses zu tun einhergeht, war bereits die Erfahrung der Pioniere der kinetischen Kunst der »Nouvelle Tendance« in den frühen fünfziger Jahren. Die Autonomie des Betrachters, das wünschenswerte Mitbestimmen »naiver« Zuseher wurde vorrangig in den pädagogisch und politisch motivierten animatorischen Arbeiten der sechziger Jahre unter Ausnutzung des »Spieltriebs« trainiert. Über die zunehmend einfließende gestaltende Kraft von Zufall und Unordnung – formalisiert in entsprechenden mathematischen Theorien – begann der reflektorische Teil der Bewusstwerdung des Einflusses eigenen Verhaltens auf ein an und für sich subjektiv nicht mehr durchschaubares System. Eine Ästhetik der Unabgeschlossenheit vor Augen, lehrt heute eine interaktive Kunst nicht nur die Descartes’sche kontinuierliche Schöpfung, sondern die Erfahrung der Eingebundenheit in komplexe Systeme, in denen sich sicheres Wissen um ihr Verhalten als trügerisch und vorurteilshaft erweist und Unsicherheit wie Toleranz sich nicht als moralische Kategorie, sondern Größe der Überlebensfähigkeit zeigen. Hat die Erhöhung der Geschwindigkeit die Irritation des mechanistischen Systems gebracht und in der Wahrnehmung Raum und Zeit zum Hier und Jetzt geschrumpft, so bringt Digitalisierung seine Transgression: eine willkürliche Welt entzieht sich der mechanisch körperlichen Interaktion, an ihre Stelle tritt die hedonische Regelung. Hier kommt wieder Musik als erfahrungsbasiertes Paradigma ins Spiel – Musik als hedonisch geregelte dynamische Form nichtsbedeutender Codes als Modell für die Gestaltung und perception willkürlicher Welten, Musizieren als hedonisch gesteuertes instrumentarisiertes Ausdrucksverhalten als Modell der Interfaces, des (körperlichen) Zugangs in willkürliche Welten. 8.3 Digitalisierung und Musik Die Digitaltechnik macht Vieles möglich, was bereits zuvor in der mit Codes operie-renden Musiktheorie angelegt war, sie vereinfacht jene Manipulationen, die unter Einschränkung auf das physikalisch Vorgegebene mit der auf Musik angewandten Analogtechnik und der Übertragungstechnologie (ästhetisch) vollzogen war. In der Machbarkeit und in der alltäglichen Bereitstellung der Möglichkeiten dazu, ihrer Verfügbarkeit, liegt die Innovation. Machbarkeit führt jenseits der Grenzen des physikalisch Möglichen. Verfügbarkeit eröffnet den allgemeinen Blick auf Hervor-bringungen, die nun vorschnell der Digitaltechnik zugeschrieben werden. Denn Dinge, die zuvor die Experimente der Avantgarde ausmachten, dringen jetzt ins Allgemeinbewusstsein ein. Willkürliche Machbarkeit durch Digitaltechnik und so-zioökonomische Verfügbarkeit verändern das Leben der digital culture: Befreit von mechanischen Implikationen der Körperlichkeit regeln hedonische das willkürlich Machbare und stets Verfügbare – eine Produktionsgesellschaft mutiert zu einer Erlebnisgesellschaft. Musik ist darin bewegender Faktor, sie bietet ein Modell für das Leben in der digital culture. Ihr Gestalten und Erleben ist hedonisch, Musik formalisiert Musizieren als die unmittelbare, instrumentarisierte und mediatisierte Interaktion des Körpers mit einer virtuellen Umwelt.