432 Bedingungen der Irritation und Transgression des mechanischen Systems Dieser vorweg genommenen Conclusio folgend soll jene systematische Basis, die die bestehende Kultur zur Digitalkultur stilisiert, an ihrem Mittler wie an ihrer Hervorbringung Musik diskutiert werden. Digitalisierung bedingt eine Virtualisie-rung der Welt, eine Existenz geschaffen über Codes; darin ähnelt sie der Musik als Code-System. Der aus der körperlichen Interaktion mit der Welt der Dinge extrahierten Vorstellung über eine mechanische Regelung enthoben ist die Welt der Codes hedonisch geregelt. Die Diskussion beschränkt sich auf einige prägnante Aspekte und geschieht hier in Fortführung der kritischen Überlegungen von Helmut RÖSING (1996). Der Autor ortet die Ursache einer Fehleinschätzung der digitalen Revolution in mangelndem historischem Denken. Aber – ein Bewusstsein als Folge allgemeiner Verfügbarkeit hat kein funktional bestimmtes Motiv an dem Ursprung des Vorhandenen interessiert zu sein. Geschichtslosigkeit mag als eine Implikation gelten, die mit der Erfahrung der Allgegenwart, der Verfügbarkeit abseits von Zeit und Raum zum Bewusstsein wird. Sie manifestiert sich im Musikalischen durch wertfreien Umgang mit Samples als klangliches Material jenseits seiner einstmaligen Bestimmung und verweist darauf. 8.3.1 Digitalisierung als Fortführung der Elektrifizierung? RÖSING (1996) sieht in der Digitaltechnik keine dritte Revolution nach der Nie-derschrift von Musik und seiner Elektrifizierung, sondern die Fortführung der Elektrifizierung. Hat die erste Revolution höhere Komplexität und damit die Mehr-stimmigkeit ermöglicht (KADEN 1985, S. 334) und damit vielleicht Musik vom Musikantischen gelöst, so hat die Elektrifizierung diese Bindung wieder vorge-nommen und die Einheit von Komponist und ausführendem Interpreten wieder hergestellt. Diese Einheit, aber auch mangelnde Exaktheit möglicher Notationen hat die schriftliche Fixierung elektronischer Musik eliminiert und das Original zur einzig gültigen Existenzform gemacht. Dasselbe gilt für jene Pop-Musik, die in session-artiger kollektiver Studioarbeit geschaffen ist, von der es ein gespeichertes Original und möglicherweise unterschiedliche Versionen gibt. Das gleiche existiert aber nur als dasselbe in Form der Kopie – wobei die elektromagnetische wie die digitale mehr oder weniger fehlerhaft sind. Notationen haben didaktischen Wert und sind grafische Lesehilfen, oder sind im Falle der elektronischen Künste Hand-lungsanweisungen zur Dokumentation des Erstellungsprozesses, kaum jedoch zum Nachstellen, was eine Kopie einfacher und getreuer realisiert. Auch die Komposition vollzieht sich am Endklang – das Ohr und nicht visuelle oder kognitive Größen, die an schriftlichen Zeichen oder an die Vorstellung von Klang geknüpft sind, wird wieder zum unmittelbaren Kontrollorgan des Komponierens. Die Elektrifizierung macht jene Trennung zwischen Komponist und Ausführendem wieder rückgängig. Die Digitaltechnik fügt aber dennoch einen wesentlichen Schritt hinzu: die Möglichkeit, die kompositorisch-klangliche Arbeit in realtime zu machen; dies impliziert die Ausführung aller musikantischen Formen von Musik, die im Hier und Jetzt ihre Genese finden, die Improvisation und die kollektive kommunizierende Gestaltung durch Realtime-Interaktionen über Interfaces mit dem Rechner bzw. anderen communication nodes.