8.5 Musik als willkürliche, prozessuale Gestaltung 447 tion: Gestaltung von Klang nicht bloß im Vertikalen, sondern im Horizontalen. Was die Konkreten als musikalische Verarbeitung des Klanges sahen, was Xenakis im Stück, das auf Glissandi von Streichern und Posaunen aufbaut, Metastasis (1954), Ligeti im elektronischen Übungsstück Glissandi (1957),9 danach in der unmittelbaren Fortführung in Artikulation (1958), später in der Übertragung als Mikropolyphonie auf die Orchesterarbeit in Apparitions (1959) und Atmosphère (1961) als klanggenerierende/-komponierende Methode über den am Parameter haftenden seriellen Sinne hinaus verstanden haben, was Ligeti der Erfahrung der elektronischen Musik in Zusammenarbeit mit Koenig (LIGETI 1981) zuschreibt, der dieses Phänomen in der Technologie der elektronischen Musik angelegt als »Bewe-gungsfarbe « beschreibt (KOENIG, 1987), hat sich als Granularsynthese etabliert. »Durch die Verwischungsgrenze – Limit: ca. 1/20 sec., d. h. +/- 50 msec – konnte die Illusion der Kontinuität diskontinuierlich dargestellt werden« erklärt LIGETI (1987, S. 22) in einer Diskussion im Anschluss an einen Vortrag von KOENIG (1987) über Ligeti und die elektronische Musik10 Die Digitalisierung des Klanges und damit die Machbarkeit war eine Voraussetzung für diese Kompositionstechnik; damit wurde ei-ne von den Serialisten auf die Gestaltung der Parameter, von den Konkreten auf den Klang angewandte Klangverarbeitungstechnik auf die Klangenerierung übertragen. Techno hat die Verarbeitungsweisen der musique concrète aufgenommen, jeglichen 9 Kritisch auch als instrumentales »Effektance«, als ein Effekt der elektronischen Musik erachtet (vgl. DOBROWOLSKY als Beitrag zur Diskussion von G.M. KOENIG, Vortrag über Ligeti und die elektronische Musik (KOENIG 1987, S. 24). 10 Die direkte horizontale Klangkomposition stellt nicht nur den Begriff der Klangfarbe in Frage, der von der Reihentechnik als Parameter, als Code für einen Klang, von der elektronischen Musik übernommen wurde. Boulez fordert gegenüber dem Klangphänomen »einen völlig anderen Standpunkt« (BOULEZ 1955, S. 54) einzunehmen, zugleich, dass der »Begriff der Reihe erweitert werden müsse« (ebenda, S. 56), Pousseur das Denken in »Zeitabschnitte[n], die kleiner sind als die sogenannte ›Gegenwartsdichte‹« (POUSSEUR 1955, S. 46). Die zeit-liche Konstruktion als interne Bewegung von Klang bringt ein Verständnis von Musik als dynamischer Klanggestalt, das Musik zum Paradigma der systemischen Gestaltung macht. Die Komposition nicht mit der, sondern der Klangfarbe ortet Ligeti im Spätwerk Weberns, das er ähnlich seiner eigenen Arbeit beschreibt, »etwa wenn er 1960 vom ›luftigen, drahtigen Netzwerke‹ spricht« (BLUMRÖDER 1987, S. 35). Ein kompositorisches Klangdenken, das von der Moderne in die Postmoderne führe und die Idee des Rhizom, ein ›unzentriertes, nicht hierarchisches System‹ (DELEUZE & GUATTARI 1980, S. 32) bezeichne. Ramifications ist ein Beispiel für »die vielschichtigen Prozesse der Ausarbeitung der Mikrostruktur in den komplexen Texturen bei Ligeti. [Sie] zielen auf die Komposition verschiedener ›Raumtypen‹, ›bei denen die Raum-Analogie unmittelbar durch den Schein des Stillstehens des musikalischen Geschehens entsteht‹ [. . . ]« Diese vielschichtigen Texturen sind nämlich in Realität, ohne sich notwendigerweise der vorwärtsgerichteten Bewegung zu unterwerfen, der klarste und direkteste Ausdruck der Bewegung als fortgesetzte Transformation oder universelle Variation in alle Richtungen – mit anderen Worten: ›ramifications‹ (Verästelungen) der Klangmaterie, ›Rhizom‹ (STOIANOVA 1987, S. 226–227). Indem dieses mikrostrukturelle Denken nicht nur auf die Makrostruktur des Werkes, sondern den Prozess der Generierung übertragen wird, wird ein musikalischer Raumbegriff des in sich bewegenden Klangs, wird das Modell des in Musik formalisierten auditiven als Ereignisraum auf die Net-Art übertragbar (JAUK 1999b). Nicht externe Bewegung erzeugt ein Raumempfinden (BERGSON 1941), sondern innere Bewegung (vgl. DELEUZE 1983): Bewegungsfarben gestalten Texturen als Raumtypen, Kommunikation gestaltet den Net-Space – Raumparadigmata, die dem auditorischen als Ereignisraum folgen. In diesen inneren Bewegungen sind die wechselseitigen Bezüge von Gestaltung und Gestalt angelegt, musikalisches Kriterium der Net-Art, wogegen ADORNO (1958) noch setzt: »Form unterscheidet sich von dem, was geformt wird, Inbegriff dessen, was es zu Kunst überhaupt macht« (ADORNO 1958, S. 9).