- 303 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Musik und Leben 
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ich mich nicht: Geschichte, auch Kunst- und Kulturgeschichte findet an solchen konkreten Orten statt – dies sind nicht immer die glanzvollen Herrschaftsorte mit ihren (Kultur-)Palästen, und sie sind nach wie vor zu selten Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung.

Im Laufe der vielen Jahre, die ich in Neukölln arbeite, versuchte ich so manche Tiefenbohrung, die andere als die üblichen Aspekte von Kultur- und Musikgeschichtsschreibung fokussierte und zumindest einen Beitrag zu einer neu konzipierten Berliner Musikgeschichte ermöglichte.1

1
Siehe Rixdorfer Musen, Neinsager und Caprifischer. Musik- und Theatergeschichte aus Rixdorf und Neukölln, hg. von Dorothea Kolland, Berlin 1990.
Von diesen Kulturgeschichtsträchtigkeit hatten wir noch keine Ahnung, als wir uns bei »Koffer-Panneck« zum 1. Mai trafen – und wir wußten auch nicht, daß quasi direkt hinter uns Kunstgeschichte gemacht wurde.

Einige Fundstücke dieser Tiefenbohrung seien hier kurz vorgestellt, alle gefunden in der unmittelbaren Umgebung unseres Demonstrationstreffpunktes, der sich direkt am Schnittpunkt des »böhmisches Dorfes« und der Arbeitermetropole Rixdorf/Neukölln befindet.

1732 wurden von Friedrich Wilhelm I. Glaubensflüchtlinge aus Böhmen angesiedelt, im Zuge preußischer Peuplierungs- und Wirtschaftspolitik. Das von Egon Erwin Kisch als »Fata Morgana« in einer preußischen Stadt bezeichnete »böhmische Dorf« entstand, bis heute liebevoll erhalten und von Nachfahren der Exilanten bewohnt, die ihre Vorfahren auf einem verträumten kleinen Gottesacker mit alten tschechisch-beschrifteten Grabsteinen besuchen können. Die Flüchtlinge kamen aus einer europäischen Kulturregion, die die Musikgeschichte nachhaltig beeinflußte, aus Familientraditionen, in denen Musik und musikalische Kompetenz eine große Rolle spielten. Und sie streiften auf ihrem Fluchtweg Herrnhut, das unter Graf Zinzendorf das protestantische deutsche Kirchenlied nachhaltig veränderte. In Rixdorf – so hieß Neukölln früher – entwickelte sich eine sehr spezifische religiös geprägte Kirchenmusiktradition, die auch unter dem Aspekt der Gender studies interessant ist: So waren z. B. der Geburt oder dem Tod von Gemeindemitgliedern spezifische Choräle zugeordnet: Den Knaben besang man anders als das Mädchen, den Tod einer Frau betrauerte man mit anderen Liedern als den Tod eines Mannes, und einer ledige »Schwester« waren wiederum andere Gesänge zugeordnet.2

2
Vgl. Dorothea Kolland, Die Musiktraditionen der Rixdorfer Exulanten, in: Das Böhmische Dorf in Berlin-Neukölln, hg. von Werner Korthaase, Berlin 1987.

Bedeutsam für die Musikgeschichte aber ist insbesondere, daß hier im Jahr 1779 der erste Berliner Posaunenchor entstand, der bis heute existiert – der berühmte »Posaunengeneral« Kuhlo konnte auf eine große Tradition zurückgreifen. Wer es heute schafft, am Ostermorgen um 5 Uhr aufzustehen, kann den »Ostergang« des böhmisches Bläserchores durch das alte Böhmische Dorf begleiten, der zwar nicht mehr in Frack und Zylinder gekleidet ist und der kräftig durch Frauen


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