- 81 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Musik und Leben 
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sind allgegenwärtig, so dass Schönbergs Begriff der Pantonalität von 1921 hier durchaus triftig ist.
Dieser »Stand des Materials« der »heroischen Phase« der Neuen Musik (um Th. W. Adorno zu paraphrasieren) ist auch für Pierrot lunaire konstatierbar. Doch hier gibt es – sicherlich ein Tribut ans Sujet – wieder mehr Konstruktivität und sogar distanzierendes Darstellen; die unmittelbare musikalische »Expressionslogik«, die Schönberg häufig wie eine Art « écriture automatique »beschrieb, ist jetzt eine Möglichkeit unter vielen.

Die Schauspielerin Albertine Zehme bat 1912 Schönberg, Melodrame für ihre Programme zu schreiben. Sie und auch der Übersetzer der Gedichte des belgischen Dichters Albert Giraud, Otto Erich Hartleben (dessen Nachdichtungen ich im übrigen für durchaus gelungener halte als die mechanisch manieristischen Originale), gehörten zur »Szene« der Berliner Literarischen Cafés und Kabaretts. Immerhin hatte ja Schönberg bei seinem ersten Berlin-Aufenthalt die musikalische Verantwortung für Ernst von Wolzogens »Überbrettl«, das allerdings schon 1903 pleite war. Der reiche Ehemann von Albertine Zehme sponserte heimlich die gesamte Pierrot-Unternehmung, so dass sich die auch in der Schönberg-Literatur verbreitete Darstellung des »finanziellen Erfolges« durchaus relativiert.

Wie jüngste Forschungen von Reinhold Brinkmann ergaben, kannte Schönberg weder die Originale Girauds noch den vollständigen Zyklus von Hartleben, sondern er benutzte ein Konvolut von 22 Gedichten, die Frau Zehme bereits öffentlich rezitierte, und gab 21 von ihnen eine völlig eigene dramaturgische Anordnung. Schönberg sprach später von einem Zyklus von »Kammermusikliedern« und verwies so auf die Rück-Bindung an die großen Zyklen von Schubert und besonders Schumann; dessen »Dichterliebe« zeigt ähnliche Verfahren großfor-maler Zusammenhangsbildung, also: Korrespondenzen, Wiederaufnahmen von musikalischem Material und – in diesem Zusammenhang – die besondere Bedeutung der »absoluten«, rein instrumentalen Partien.

Die Texte markieren eine ästhetisch vergangene Position des Fin de Siècle und changieren zwischen Jugendstil, Décadence und Symbolismus. Das Inventar der Commedia del’arte wird in eine prätentiös intellektualisierte Moderne gewendet; »der Künstler« (was ist das?) wird stilisiert als clownesker gesellschaftlicher Außenseiter, und der Mond sorgt für die notwendige Gaga-Morbidität, die, wie wir alle wissen, Voraussetzung für Inspiration ist. Immerhin: Ironie und Groteske eröffneten auch Schönberg Façetten seiner Musiksprache, die in der hoch-expressionistischen Phase nicht möglich schienen.

Igor Stravinskij, der das Werk am 8. 12. 1912 in Berlin hörte (die Uraufführung war am 16. 10.), bewunderte das kompositorische und instrumentatorische Können, war aber vom Ästhetizismus und dem veralteten »Beardsley-Kult« enttäuscht, wie die « Chroniques de ma vie »bezeugen.


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