- 144 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Theorie und Praxis der Musik 
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Hans-Christian Schmidt

 

Sind wir Musikwissenschaftler Analytiker? ...
Oder vielleicht doch nur Geschichten-Erzähler?
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1 Festvortrag zur Promotionsfeier an der Martin-Luther-Universität zu Halle-Wittenberg am 24. Februar 1996.



Da hebe ich mit einer Frage an, die nach Ketzerei, nach 95 Thesen an einer Kirchentür, nach Leistungsverweigerung tönt. Denn: auf meiner Visitenkarte steht „Musikwissenschaftler“, und das wird in aller Regel mit einer gewissen Ehrfurcht quittiert: der Mann weiß Bescheid, der blickt durch, der hat alles verstanden vor allem auf einem Gebiet, wo es immer noch zum scheinbar guten Ton gehört, lächelnd von sich zu behaupten, man sei unmusikalisch (niemand gäbe seltsamerweise gern zu, er sei unsportlich oder verstünde nichts von PCs). Also man sei unmusikalisch, könne keine Noten lesen, und mit dem Singen sei es auch nicht so doll. Man versteht, daß man im Umkreis von dergestalt fröhlich eingestandenen musikalischen Analphabeten gar leicht in den Rang eines Fabeltiers aufsteigt und sich den Nimbus eines Gurus erwirbt, bewegen wir uns doch in einer Materie, die der Laie nur in Umrissen wahrnimmt und vor allem per Gefühl rezipiert. Er ahnt, daß es da vielleicht noch ein bißchen mehr zu verstehen geben könnte, weiß es aber nicht. Und der Musikunterricht in der Schule, auf den er meistens schaudernd zurückblickt, hat auch keine bemerkenswerten Spuren hinterlassen.

Das mit der nicht einmal verschämt zugestandenen Unmusikalität hat Gründe; sie liegen, jenseits von Mißverständnissen und Vorurteilen, nicht zuletzt in der Art und Weise, mit der wir uns, die musikologisch Sachkundigen, in der Öffentlichkeit präsentieren. Was heißt Öffentlichkeit? Öffentlichkeit ist das Programmheft, das wir vor einem Symphoniekonzert schnell noch einmal durchhecheln. Öffentlichkeit ist der Booklet-Text für CDs. Öffentlichkeit sind Radio-Moderationen. Öffentlichkeit ist das Feuilleton in Zeitungen. Öffentlichkeit sind Fachbücher, Fachzeitschriften, Fach-Essays. Öffentlichkeit sind Kritiken im Regionalblättchen. Kurz: wo immer sich musikwissenschaftlicher Sachverstand artikuliert, tut er das mit dem Hilfsmittel der Sprache. Es gibt andere Formen der Exegese von Musik, andere Formen der Über=setzung: des tieferen Gehaltes einer Musik kann ich gewahr werden in einer kreativen Choreographie, in der Gebärdensprache von Tänzern. Auch kann sich mir die verborgenere Idee eines musikalischen Kunstwerks erschließen in sog. „Musikfilmen“ (ich verweise beispielhaft auf Filme wie Zauber der Venus, Amadeus, Die siebente Saite oder den Fernsehvierteiler über


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