- 119 -Lehmann, Silke: Bewegung und Sprache als Wege zum musikalischen Rhythmus 
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schnelle Spielaktionen anders eingeschätzt als das Aushalten eines langen Tones. Dieses bedarf beispielsweise am Tasteninstrument fast keiner Aktion: eine einmal gedrückte Taste muss unter geringem Aufwand nur mit etwas Gewicht versehen werden um weiter zu klingen.

Im rhythmisch-metrischen Musizieren kommt erschwerend hinzu, dass Töne nicht nur einen Anfang, ein Ende und eine Dauer haben (kardinale und ordinale Aspekte, s. o.), sondern miteinander in Verhältnis stehen. Denn häufig gibt es in der Musik einen zugrunde liegenden Schlag, den Puls oder Beat, der isochrone Zeitintervalle markiert. Dieser Grundschlag erklingt nicht unbedingt wirklich, und trotzdem treten die Töne eines Rhythmus ständig mit dieser nicht-anschaulichen Ebene in Beziehung. Im mehrstimmigen Spiel gilt es, eine weitere Ebene wahrzunehmen (oder mehrere weitere), sich davon jedoch nicht in der eigenen Ausführung beeinträchtigen zu lassen.

Für den Fall der Musikausübung ist außerdem darauf hinzuweisen, dass die Zeitgestaltung dabei während einer laufenden Aktion kontrolliert werden muss. Piaget führte einen Versuch durch, in dem Kinder 15 Sekunden lang Striche zeichnen sollten. Danach wurden sie aufgefordert, dieselben Striche nun sehr schnell zu zeichnen. Wieder wurden sie nach 15 Sekunden unterbrochen. In der Befragung gaben die Kinder an, das Zeitintervall der schnellen Striche sei länger gewesen (Piaget 1955, S. 322ff.). Es verwundert nicht, dass Kinder, je jünger sie sind, umso weniger in der Lage sind, den Zeitverlauf unabhängig von der Aktion (hohes Tempo = viel Zeit) oder dem Ergebnis (viele Striche = viel Zeit) zu beurteilen. Dass die Problematik der Zeitschätzung allerdings nicht nur Kinder betrifft, erfasst der Begriff des ›subjektiven Zeitparadoxes‹ (vgl. Abschnitt 6.1.3): Menschen in Situationen, die erfüllt von vielen Eindrücken sind, haben das Gefühl, die Zeit würde eilen, ein Mangel an Reizen wird dagegen als ›lange‹ Weile erlebt. Im Kontrast zu diesem Empfinden ist nachgewiesen, dass in der rückblickenden Erinnerung erfüllte Zeiträume länger, stimulationsarme Dauern kürzer eingeschätzt werden. Deswegen spricht die Wahrnehmungspsychologie von einem Zeitparadox.

Konsequenzen für die Musikpädagogik

Festzuhalten bleibt, dass die Gestaltung der zeitlichen Dimension in der Musik auch von kognitiver Leistung abhängig ist. Ein vollständiges, verstandesmäßiges Durchdringen rhythmischer Sachverhalte kann erst auf der Ebene der formalen Operationen gelingen. Das Verständnis der Klassifizierung von Notenwerten als Achtel, Viertel oder Halbe verlangt eben diese kognitive Bewältigung. Die Tatsache, dass Bruchrechnen erst ab der sechsten Klasse Schulstoff ist, spricht in diesem Zusammenhang allerdings für sich. Natürlich können auch schon sehr junge Kinder den Vorgang des Halbierens oder Viertelns verstehen – dies geschieht im Alltag andauernd mit Brötchen, Äpfeln oder Ähnlichem. Im Musizieren oder Notieren fehlt jedoch die konkrete Handlung, die Anschauung. Das Notensymbol der Halben ist nicht eine zerteilte Ganze, und warum bekommt die Achtel (als halbierte Viertelnote) Fähnchen oder Balken? Und warum hat die Viertelnote, in der deutlich hörbar das Wort ›vier‹ erklingt nicht wirklich vier Schläge? Wenn Wilfried Gruhn feststellt: »Kein vernünftiges Kind vermag einzusehen, daß ein Dreivierteltakt ein ganzer Takt sein soll, wo er doch nur zu drei Vierteln ausgefüllt ist.« (Gruhn 1998,


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