- 191 -Lehmann, Silke: Bewegung und Sprache als Wege zum musikalischen Rhythmus 
  Erste Seite (i) Vorherige Seite (190)Nächste Seite (192) Letzte Seite (264)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 

befindlichen Erscheinungsbildes. Beachtet wird die Abfolge der Dauern, auch gemessen an einer Art Richtgeschwindigkeit (dem Grundschlag), die über- oder unterboten werden kann. Diese Sichtweise richtet ihre Aufmerksamkeit darauf, wie Einzelelemente sich zu sinntragenden Gruppen verbinden und ist somit musikalisch hoch relevant.

Die als formal bezeichnete Ebene stellt die Einzelereignisse eines Rhythmus mit dem isochronen Grundschlag in Beziehung, das rechnerische Erfassen von Dauern und ihre Proportionalität (›doppelt so lang wie […]‹) werden erfasst. Auch dieser Aspekt hat bedeutenden Einfluss auf eine gelungene Musikausübung.

Kinder und Erwachsene, die keine Kenntnisse im Umgang mit dem Notensystem haben, neigen zum Notieren unter figuralen Aspekten, während Personen, die mit Noten umgehen können, die metrisch-formale Ebene bevorzugen. Allerdings sprechen die in Abschnitt 6.2 genannten Versuchsergebnisse, nach denen selbst Personen, die im Umgang mit Musik erfahren sind, bei entsprechenden Tapping-Aufgaben häufig alles andere als den Taktanfang markierten, eine deutliche Sprache: Immerhin führten 80 % der Versuchspersonen eine Zweier-Akzentgebung im Dreier-Takt aus. Daraus kann abgeleitet werden, dass die Aufmerksamkeit doch eher von der melodisch-motivischen Ausprägung gefesselt wird, nicht so sehr von der schematischen Einteilung der Taktschwerpunkte. Zu bedenken ist auch, dass den Versuchspersonen kein Notentext vorlag. Es stellt sich die Frage, ob das Ergebnis bei Einblick in den Notentext anders ausgesehen hätte.

Letztlich kann ein Denken im Sinne von ›entweder oder‹ dem Phänomen Rhythmus nicht gerecht werden. Figurale und metrisch-formale Wahrnehmungsweisen ergänzen einander und entwickeln sich gemeinsam; es handelt sich um nicht mehr als die unterschiedliche Beachtung zweier Aspekte derselben Sache. Oben war verdeutlicht worden, dass die implizite, nicht-intellektuelle Herangehensweise an Rhythmen wertvolle Ausstattung biologischer Existenz ist. Als entwicklungsgeschichtlich früher einzuordnen verliert diese Fähigkeit jedoch ihren Wert nicht in dem Augenblick, in dem ausgereiftere kognitive Strukturen zu Rechenoperationen befähigen.

Die Fähigkeit, Rhythmen als Motive, Gesten oder Figuren zu erkennen – und individuell interpretierend zu gestalten – berührt den Umgang mit Musik auf höchst relevante, interpretatorisch bedeutsame Weise.

Noch ein Gedanke zur (vermeintlichen) Dichotomie figuraler und formaler Rhythmuswahrnehmung: Auch wenn der Bezug zu einem isochronen Grundschlag (zum Metrum) nur im Zusammenhang mit der formalen Wahrnehmung genannt wurde, ist dennoch davon auszugehen, dass auch auf der figuralen Ebene ein Empfinden für die Regelmäßigkeit des grundierenden Metrums (im Sinne einer Gleichabständigkeit) vorhanden sein muss. Denn rhythmisch-metrische Muster erschließen sich eben nur aus der Gemeinsamkeit, sind derart konfundiert, dass die eine Ebene ohne die andere bedeutungslos würde. Auch auf neurophysiologischer Ebene konnte nicht nachgewiesen werden, dass Rhythmus und Metrum getrennt voneinander verarbeit werden (vgl. Abschnitt 7.4). Rhythmus und Metrum stützen sich gegenseitig. Auch wenn einmal mehr der eine Aspekt in den Vordergrund rückt, und dann wieder der andere, kann Rhythmus nicht ohne Metrum verarbeitet werden und Metrum nicht ohne Rhythmus. Deshalb muss die Konsequenz für das musikpädagogische Handeln lauten:


Erste Seite (i) Vorherige Seite (190)Nächste Seite (192) Letzte Seite (264)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 
- 191 -Lehmann, Silke: Bewegung und Sprache als Wege zum musikalischen Rhythmus