Mannigfaltigkeit in der Einheit: der Akzentstufentakt
In der Antike wurzelt der Gedanke, ein für alle Künste geltendes System zu
konstituieren, diesen Plan verfolgt Johann Georg Sulzer mit seiner »Allgemeinen Theorie
der schönen Künste« (1771–74). Das 19. Jahrhundert verallgemeinert den Rhythmus zum
Lebensprinzip, der Rhythmus in der Kunst wird als Variante dieses Prinzips gesehen.
Sulzer definiert, Rhythmus sei
im Grunde nichts anders […] als eine periodische Eintheilung einer Reihe
gleichartiger Dinge, wodurch das Einförmige derselben mit Mannichfaltigkeit
verbunden wird; so daß eine anhaltende Empfindung, die durchaus
gleichartig (homogen) gewesen wäre, durch die rhythmischen Eintheilungen
Abwechslung und Mannichfaltigkeit bekommt (zitiert nach Seidel 1998,
Sp. 292, alle Auslassungen wie dort).
Dabei besteht die genannte ›Reihe gleichartiger Dinge‹ aus den Schlägen bzw. Zeitteilen
des später so genannten Akzentschemas, dessen zentrale Bedeutung auch daran
abzulesen ist, dass Sulzer die Begriffe Takt und Rhythmus gleichsetzt. »Je
mannigfaltiger der Rhythmus – das Einheitsmoment – in Erscheinung tritt, um so höher
veranschlagt Sulzer die ästhetische Qualität der Musik.« (Seidel 1998, Sp. 293). Eine
ausführlichere Darstellung zur Akzenttheorie gibt Seidel (1976, S. 90): wo Sulzer nur
zwischen den Qualitäten von ›betont‹ und ›unbetont‹ unterscheidet, nennt
Johann Philipp Kirnberger (1721–1783) drei (im Vierertakt ist neben der starken
1 auch die 3 etwas betont), Gottfried Wilhelm Fink (1783–1846) sogar vier,
indem er darüber hinaus noch der vierten Zählzeit eine schwache Betonung
zuschreibt.
Rhythmus und Metrum als Begriffspaar
Im Laufe der Epoche werden die Termini Rhythmus und Metrum zum Begriffspaar, zur
Formel:
Die Taktbewegung nennt man schon im 18. Jh. Metrum, die Bewegung
der Melodie seit dem frühen 19. Jh. Rhythmus. Das Metrum steht für
Einheit und Gesetzlichkeit, der Rhythmus für Mannigfaltigkeit und Freiheit
des Ausdrucks. Das Verhältnis von Metrum und Rhythmus ist durchaus
problematisch. Es manifestiert sich darin die moderne Spannung zwischen
Allgemeinem und Besonderem, Konventionellem und Originalem. (Seidel
1998, Sp. 294).
Das Streben nach Ausgewogenheit und Gleichmaß erstreckt sich von den kleinen
temporalen Gebilden auch auf die größeren, formbildenden. Die Anzahl von 4, 8, 16 und
auch noch 32 Takten wird in der Satztheorie favorisiert, wenn auch andere Bildungen
akzeptiert und auf diese idealtypischen Abmessungen bezogen werden (vgl. Seidel 1998;
ausführlicher zu Heinrich Christoph Kochs Satztheorie in seiner Kompositionsanleitung
(1782–1793) vgl. Seidel 1976, S. 92ff.).
Festzuhalten bleibt für die Epoche der Klassik die Betonung des pychologisierenden
Aspekts. Sulzers Definition vom ›Mannichfaltigen im Einförmigen‹ ist nur eine
Umschreibung für das mentale Bedürfnis nach einer Ausgewogenheit von Vertrautem
und Irritierendem. Dass sich diese Ausgewogenheit nun speziell auf der Ebene
der formalen Einheiten verwirklicht, ist der kompositorische Ausdruck eines
auch