- 97 -Lehmann, Silke: Bewegung und Sprache als Wege zum musikalischen Rhythmus 
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Für Kinder gilt, dass sie ihre kognitiven Fähigkeiten erst allmählich entwickeln. Der unbewusste Zeitverarbeitungsmechanismus steht ihnen dagegen schon von Lebensbeginn an zur Verfügung: wie im Abschnitt 5.1 ›Sprachrhythmus und Spracherwerb‹ dargestellt wurde, sind schon Säuglinge in der Lage, sprachliche Zeitgestaltung wahrzunehmen, im Gedächtnis zu speichern und für Lernprozesse nutzbar zu machen. Die kognitive Entwicklung von Kindern wird im Abschnitt 6.3 ausführlicher thematisiert werden.

6.1.2.  Die psychische Gegenwart

Zwei bis vier Sekunden dauert für Ernst Pöppel die Gegenwart, das Jetzt. Diese zeitliche Ausdehnung findet sich seiner Meinung nach auch in der Länge sprachlicher Äußerungen wieder (vgl. Pöppel 1998, S. 372). Fraisse nennt eine Merkfähigkeit von Erwachsenen im Bereich von ca. 20 bis 25 Silben. Das Aussprechen dieser Anzahl von Silben dauert ungefähr fünf Sekunden. Neben dem Sprachbezug verweist Fraisse ausdrücklich auch auf das Gebiet der Musik: »Selbst die längsten poetischen Verse und der längste Takt in der Musik dauern kaum länger als 5 sec« (Fraisse 1985, S. 95). Wilhelm Wundt hatte schon 1911 eine so genannte Präsenzzeit von drei Sekunden angenommen (nach Beck 1993, S. 464). Der Neurophysiologe Otto-Joachim Grüsser dagegen geht davon aus, dass die Präsenzzeit bis zu 20Sekunden lang sein kann. Nach Ablauf dieser Zeit verlieren selbst geübte Redner den Faden ihres aktuell produzierten Satzes und müssen neu formulieren (vgl. Grüsser 1998, S. 101).

Grüsser thematisiert auch die untere Begrenzung der Zeitwahrnehmung des Momentes und illustriert diesen mit einer Analyse des ›Augenblicks‹:

Schaut man sich in der Welt um, so verschiebt sich der Fixationspunkt der Augen durch Saccaden von einer Stelle des Blickfeldes zur anderen. Saccaden sind ruckartige Bewegungen von 10–80 ms Dauer. Zwischen den Saccaden liegen Fixationsperioden von etwa 150–600 ms Dauer. (ebd., S. 99).

Hier bestätigt sich die im Zusammenhang mit dem Zeitverarbeitungsmodell von Pöppel schon angegebene Differenzierungsleistung im Millisekundenbereich (vgl. Abschnitt 6.1.1).

Neben der Dauer im Bereich von einigen Sekunden spielt auch die Menge der sensorischen Reize zur Bemessung einer als Gegenwart erlebten Zeitspanne eine Rolle. Paul Fraisse verweist darauf, dass fünf bis sechs Klänge ohne besonderes Zählen wahrgenommen werden können. Diese Zahl von Ereignissen wird von Kindern, die noch nicht zählen können, fehlerfrei reproduziert. Zur Überschaubarkeit der akustischen Stimulianzahl merkt Fraisse noch an, dass in der Morsesprache kein Signal mehr als 5 Elemente enthält (Fraisse 1985, S. 94).


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