- 421 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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Rollenkonstellation vom Tod und dem Mädchen, die auch innerhalb der Charaktere klar definiert werden kann. Doch der eigentliche Schlüssel zur Dramaturgie liegt in der Perversion. Der Tod – Miranda – präsentiert sich zunächst als sanfter Götterbote, der sich viel Zeit für das Mädchen – Paulina – nimmt, um sie zu beruhigen. Doch der »sanfte Schlaf«, den Schuberts respektive Claudius’ Todesgestalt gemäß der antiken Auffassung bringt, wird in Vergewaltigung, Demütigung, letztlich Folter pervertiert, was eher an die christliche Vorstellung des strafenden Sensenmannes erinnert. Das Allegro steht nun nicht mehr für den Tod, in dessen ruhevolle Arme sich das Mädchen sinken läßt, sondern für eine perverse Bedrohung schlechthin. Insofern klebt an der Musik ein eindeutiges filmisches Etikett. Schneiders Begriff des »affektiven Gedächtnisses« rückt hier mehr denn je in den Vordergrund, denn es ist die Stimme ihres Peinigers und die Musik Schuberts, die Paulina an ihre Vergangenheit erinnert und damit die filmische Grundlage bildet. Damit fördert Polanski ebenso eine im Grunde unbequeme wie traurige Wahrheit zutage, die für die Untaten lateinamerikanischer Junten ebenso gilt wie für andere Länder, in denen Menschenrechte verletzt werden47
47 Frank Klubertz: »Der Tod und das Mädchen (Death and the Maiden).« Filmdienst 48 (1995) 23.
: nicht die summarischen sachlich vorgetragenen »Fakten« über das Unrecht an einer Überzahl anonymer Opfer, sondern erst die drastischen Details individueller Schicksale (hier: Schuberts Musik) können eine träge gewordene Öffentlichkeit noch schockieren und zumindest zum Aufhorchen bewegen. Schuberts Quartett ist es auch, das Paulina letztlich immer an ihre traumatische Vergangenheit erinnern wird. Daran heftet sich die Frage, wie Menschen in der Lage sein werden, mit einer solch traumatischen Vergangenheit weiterzuleben. Schuberts Musik erscheint am Ende ebenso wie Paulina als »Opfer« des Zusammenspiels von Perversion und musikalischer Leidenschaft. Ähnlich wie in Das Schweigen der Lämmer handelt es sich bei Miranda ebenso um einen intelligenten, kultivierten Mann – die Tatsache, daß er mit seiner Familie im Konzert sitzt, demonstriert dies. Polanski suggeriert dem Zuschauer hier einen bürgerlichen, eher unscheinbaren Tätertyp. Er mißbraucht Schuberts Streichquartett, um für Paulinas Vergewaltigung »in Stimmung zu kommen«. Die Parallele zu Spielbergs Schindlers Liste ist ebenso greifbar. Die Tatsache, daß Massenmörder und Vergewaltiger durchaus einen Sinn für Kultur und Bildung haben, beweist umso mehr, daß Geisteswissenschaften wie Musik und Literatur den Menschen nicht unbedingt menschlicher oder zivilisierter machen. Damit verkehrt er nicht nur das Schubert-Quartett bzw. das Claudius-Lied in eine kaltblütig bestialische Todesattitüde über die dunkelsten Seite der menschlichen Psyche. In einer für ihn charakteristisch erschreckenden Weise verkehrt er somit Werte, die in der Geschichte unter dem Siegel der Pietät gehandelt wurden. An ihre Stelle treten Folter, menschliche Grausamkeit und sexuelle Perversion, die unter der undurchdringlichen Maske bürgerlicher Normalität lauern.

Die eindringliche Dramatik des ersten Satzes klärt auch die Frage, warum Polanski sich lieber an den ersten Satz des Quartetts gehalten hat anstatt den langsamen Satz zu zitieren, auf den sich das Claudius-Lied unmittelbar bezieht. Das Andante con moto hätte emotional gesehen niemals den aufreibenden Nerv der Geschichte treffen können. Die überladene Dramatik entspricht der psychischen Verfassung


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