Rollenkonstellation vom
Tod und dem Mädchen, die auch innerhalb der Charaktere klar definiert werden kann.
Doch der eigentliche Schlüssel zur Dramaturgie liegt in der Perversion. Der Tod –
Miranda – präsentiert sich zunächst als sanfter Götterbote, der sich viel Zeit für das
Mädchen – Paulina – nimmt, um sie zu beruhigen. Doch der »sanfte Schlaf«, den
Schuberts respektive Claudius’ Todesgestalt gemäß der antiken Auffassung bringt, wird
in Vergewaltigung, Demütigung, letztlich Folter pervertiert, was eher an die christliche
Vorstellung des strafenden Sensenmannes erinnert. Das Allegro steht nun nicht mehr für
den Tod, in dessen ruhevolle Arme sich das Mädchen sinken läßt, sondern für eine
perverse Bedrohung schlechthin. Insofern klebt an der Musik ein eindeutiges
filmisches Etikett. Schneiders Begriff des »affektiven Gedächtnisses« rückt hier mehr
denn je in den Vordergrund, denn es ist die Stimme ihres Peinigers und die
Musik Schuberts, die Paulina an ihre Vergangenheit erinnert und damit die
filmische Grundlage bildet. Damit fördert Polanski ebenso eine im Grunde
unbequeme wie traurige Wahrheit zutage, die für die Untaten lateinamerikanischer
Junten ebenso gilt wie für andere Länder, in denen Menschenrechte verletzt
werden47:
nicht die summarischen sachlich vorgetragenen »Fakten« über das Unrecht an einer
Überzahl anonymer Opfer, sondern erst die drastischen Details individueller Schicksale
(hier: Schuberts Musik) können eine träge gewordene Öffentlichkeit noch schockieren
und zumindest zum Aufhorchen bewegen. Schuberts Quartett ist es auch, das
Paulina letztlich immer an ihre traumatische Vergangenheit erinnern wird. Daran
heftet sich die Frage, wie Menschen in der Lage sein werden, mit einer solch
traumatischen Vergangenheit weiterzuleben. Schuberts Musik erscheint am
Ende ebenso wie Paulina als »Opfer« des Zusammenspiels von Perversion und
musikalischer Leidenschaft. Ähnlich wie in Das Schweigen der Lämmer handelt
es sich bei Miranda ebenso um einen intelligenten, kultivierten Mann – die
Tatsache, daß er mit seiner Familie im Konzert sitzt, demonstriert dies. Polanski
suggeriert dem Zuschauer hier einen bürgerlichen, eher unscheinbaren Tätertyp. Er
mißbraucht Schuberts Streichquartett, um für Paulinas Vergewaltigung »in Stimmung
zu kommen«. Die Parallele zu Spielbergs Schindlers Liste ist ebenso greifbar.
Die Tatsache, daß Massenmörder und Vergewaltiger durchaus einen Sinn für
Kultur und Bildung haben, beweist umso mehr, daß Geisteswissenschaften
wie Musik und Literatur den Menschen nicht unbedingt menschlicher oder
zivilisierter machen. Damit verkehrt er nicht nur das Schubert-Quartett bzw. das
Claudius-Lied in eine kaltblütig bestialische Todesattitüde über die dunkelsten Seite der
menschlichen Psyche. In einer für ihn charakteristisch erschreckenden Weise verkehrt
er somit Werte, die in der Geschichte unter dem Siegel der Pietät gehandelt
wurden. An ihre Stelle treten Folter, menschliche Grausamkeit und sexuelle
Perversion, die unter der undurchdringlichen Maske bürgerlicher Normalität
lauern.
Die eindringliche Dramatik des ersten Satzes klärt auch die Frage, warum Polanski sich lieber an den ersten Satz des Quartetts gehalten hat anstatt den langsamen Satz zu zitieren, auf den sich das Claudius-Lied unmittelbar bezieht. Das Andante con moto hätte emotional gesehen niemals den aufreibenden Nerv der Geschichte treffen können. Die überladene Dramatik entspricht der psychischen Verfassung |