- 110 -Müßgens, Bernhard: Musik und Angst 
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verkündet das Strafgericht Gottes. Stufe um Stufe steigt er auf der Leiter der sozialen Anerkennung empor, wird Generalsuperintendent von Riga und führender Mann der livländischen Kirche. Die Gedenkmünze zu seinem fünfzigsten Dienstjubiläum erscheint im selben Jahr, in dem sein Sohn auf einer Moskauer Straße unter erbärmlichen Umständen stirbt. Das Vater-Sohn-Verhältnis ist zweifellos der Hintergrund, vor dem die Widersprüche, die Ängste und die innere Zerissenheit des Jakob Michael Reinhold Lenz verständlich werden.

     Über die Mutter ist nur wenig bekannt. Sigrid Damm zitiert in ihrem Aufsatz über Lenz Auszüge aus dem einzig erhaltenen Brief der Mutter an den Sohn: ein Dokument von großer Zärtlichkeit und bedrückender Sorge um den vierundzwanzigjährigen Sohn, den sie bereits seit Jahren vermißt und bis zu ihrem Tode nicht mehr wiedersehen wird. Die Mutter stirbt ein Jahr vor seiner Rückkehr nach Livland.

     Als Lenz neun Jahre alt ist, verläßt die Familie das Dorf Casvaine und zieht nach Dorpat in Südestland, wo der Vater Stadtpfarrer wird. Hier lebt er bis zu seinem siebzehnten Lebensjahr, schreibt erste Gedicht und bereitet sich auf die Universität vor. Auch Dorpat ist vom Krieg gezeichnet. Die Universität, von Gustav Adolf gegründet, ist vernichtet. Erst im Jahre 1803, nach Lenz' Tod, wird sie wiedereröffnet. Das Haus des Pastors ist in schlechtem, baufälligem Zustand. In der Lateinschule, die Jakob und seine Geschwister zeitweilig besuchen, herrschen katastrophale Zustände. Der Vater richtet ein Schreiben an den Rektor. Er befürchtet, daß die Kinder durch Mißhandlungen und Bemerkungen "... ganz mutlos und blödsinnig gemacht werden" (Damm, "J. M. R. Lenz" 705). Zwischen 1749 und 1758 gelingt keinem Schüler aus Dorpat der Weg zur Universität. Der Vater bestimmt Jakob dennoch zum Theologiestudium. Der ältere Bruder studiert Theologie in Königsberg. Pastor Lenz nutzt seinen Einfluß innerhalb der Stadt. Er spart selbst und bittet die Stadt um finanzielle Unterstützung für das Studium des Sohnes.

     Bald werden weitere Personen auf den wißbegierigen und sensiblen Jakob Lenz aufmerksam. Durch Konrad Gadebusch, einen Mitarbeiter von Friedrich Nicolais "Allgemeiner Deutscher Bibliothek", erhält er Zugang zur neuesten Literatur, zu Rousseau, Winckelmann, Lessing und Klopstock. In Riga, nicht weit von Dorpat entfernt, veröffentlicht der junge Herder seine ersten Schriften. 1765 besucht Katharina die Erste Dorpat. Lenz liest Herders Huldigungsoden an die Zarin und ahmt sie nach. Soziale Ungerechtigkeit und Grausamkeiten ohne Beispiel dauern indessen an. Der Fünfzehnjährige erlebt, wie ein deutscher Kammerdiener wegen eines geringen Vergehens öffentlich gebrandmarkt und lebenslänglich nach Sibirien verbannt wird. Er begehrte gegen eine körperliche Züchtigung seines Herrn auf. Der Vorgang wird von Zeitgenossen als Beispiel fortschrittlicher Gesetzgebung beurteilt. Eben ist in


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